Die Frau des Praesidenten - Roman
geäußert, die ich kenne oder die so alt sind.
»Ist es nicht ein Glück«, sage ich, »dass wir beide in einem Land leben, in dem es uns erlaubt ist, solche Kritik zu äußern? Dr. Wycomb, es ist Ihr gutes Recht, die Entscheidungen, die der Präsident trifft, abzulehnen, aber vergessen Sie bitte nicht, dass seine Regierungstätigkeit nichts mit mir als Privatperson zu tun hat.«
»Wie praktisch.« Sie blickt geradeaus ins Leere. »Aber das Private ist politisch, oder hast du die Frauenbewegung etwa komplett verschlafen?« Sie wendet mir den Kopf zu, um mir wieder in die Augen zu sehen. »Ich habe so oft darüber nachgedacht, dir einen Brief zu schreiben, und habe mir immergesagt, Gladys, er kommt sowieso nicht an. Sie wird ihn nie zu sehen bekommen. Aber trotzdem habe ich lange geglaubt, du würdest eines Tages eingreifen. Ich habe all die Jahre auf einen Hinweis gewartet, dass du ihm endlich Vernunft beibringst.«
»Nicht jedes Gespräch, das ich führe, ist öffentlich, Dr. Wycomb.«
»Willst du damit sagen, du hättest deinen Mann zur Rede gestellt?«
»Ich höre auf mein Gewissen. Das ist alles, was ich sagen will.«
»Und ich höre auf meins«, sagt sie. »Damit du nicht denkst, ich hätte Zweifel an meinem Plan, dein Geheimnis zu lüften: Ich bereue nur, dass ich das nicht schon vor Jahren getan habe.«
Wir schweigen beide, und ich höre irgendwo anders in der Wohnung einen weiteren Fernseher laufen – eine Daily Soap wahrscheinlich. Norene Davis hat, wie ich beim Hereinkommen gesehen habe, ihr schwarzes Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden und trägt einen Schwesternkittel mit Teddybären darauf.
»Was glaubst du, wer darunter leidet, wenn
Roe
gekippt wird?«, sagt Dr. Wycomb schließlich. »Nicht die Frauen, die wir kennen. Die werden weiterhin zu ihren Ärztinnen gehen, so wie du zu mir gekommen bist, in aller Heimlichkeit, aber unter den besten hygienischen und medizinischen Bedingungen. Aber was tun die ärmeren Frauen? Jeder Arzt weiß, dass Abtreibungen durch Verbote nicht seltener werden, sondern nur gefährlicher. Vor dem Gerichtsbeschluss 1973 hatte ich öfter Patientinnen, die nach einem verpfuschten Eingriff zu mir kamen. Die Entzündungen und Blutvergiftungen, die sie mitbrachten, kannst du dir in deinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen, und das waren noch die, die Glück gehabt hatten. Die anderen sind gestorben, bevor ihnen jemand helfen konnte. Und da soll ich schweigend mitansehen, wie
das
wieder eingeführt wird?« Sie zittert, ein leiser Schauder durchläuft ihren ganzen Körper. »Was ich nicht länger ertrage, ist diese Einstellung in Regierungskreisen, dass ihnen alles, was sienicht persönlich betrifft, egal ist.
Ich
musste sicher nicht damit rechnen, jemals abtreiben zu müssen. Und inzwischen bin ich so alt, dass ich nicht mehr erleben werde, wie es weitergeht. Aber das heißt nicht, dass ich sagen würde: ›Nach mir die Sintflut, seht zu, wo ihr bleibt.‹«
»Dr. Wycomb, Sie dürfen nicht vergessen, dass das amerikanische Volk President Blackwell gewählt hat. Sie mögen mit seinen Entscheidungen nicht einverstanden sein, aber viele Bürger sind es. Man kann nicht alle zufrieden stellen.«
»Diese Wahl war eine Farce.« Sie presst ihre schmalen Lippen aufeinander und sieht wütend aus, fuchsteufelswild.
»Ich kann verstehen, dass Sie enttäuscht sind«, sage ich, »aber …«
»Du bist eine Marionette. Jedes Wort, das du sagst, klingt, als hätte es dir ein Redenschreiber in den Mund gelegt.«
So redet man nicht mit der First Lady – niemand tut das, außer einzelnen Demonstranten bei Veranstaltungen, und wenn das passiert, werden sie rasch weggeschafft. Was Dr. Wycomb sagt, ist beleidigend und ärgerlich, es ist herablassend, aber ihre Wut hat auch etwas Reines und Wahres, wie ein kalter Windstoß. Es ist beinahe erfrischend, erleichternd, so von Angesicht zu Angesicht beschimpft zu werden.
Obwohl ich schon weiß, was sie darauf antworten wird, sage ich: »Ist Ihnen bewusst, dass ich in zwei verschiedenen Interviews das Recht auf Abtreibung befürwortet habe?«
»Als du deine zwei Ein-Wort-Sätze aufgesagt hast?«
»Ich fände es gut, wenn wir uns auf etwas einigen könnten, das uns beiden akzeptabel erscheint«, sage ich. »Denken Sie, das wäre möglich?«
»Sorg dafür, dass Ingrid Sanchez nicht in den Supreme Court kommt.«
»Das ist etwas, worauf ich keinen Einfluss habe.«
»Aber du bist mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten
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