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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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salzig-sauren Geruch, den ich zwar noch nie gerochen hatte, aber dennoch sofort erkannte.
    »In meine Klasse ging einmal ein Mädchen, die hatte eine wunderschöne Stimme«, sagte meine Großmutter. »Leona Stromberg.«
    Obwohl sie noch nicht einmal zur Hälfte aufgegessen hatte, legte sie Messer und Gabel auf dem Tellerrand ab, zündete sich eine Pall Mall an und begann zu erzählen: »Wenn sie sang, bekam man automatisch Gänsehaut. Eines Sommers, es muss 1909 oder ’10 gewesen sein, kam ein Zirkus in unsere Stadt. Sie überredete irgendjemanden, vorsingen zu dürfen, und so wie ich es mitbekommen habe, wurde sie weniger ihrer Stimme wegen, sondern vielmehr aufgrund ihres Aussehens engagiert, was eine Schande war. Nicht, dass sie nicht auch hübsch war, aber sie hatte eine wahre Gabe und wurde von ihnen als eine Art Assistentin des Zauberers eingesetzt. Jedenfalls verlässt sie Milwaukee mit dem Zirkus – sie ist ungefähr achtzehn – und reist hierhin und dorthin. Eines Abends gastiert der Zirkus in Baltimore, und mitten in der Show beißt ihr ein Tiger die Nase ab.«
    »Du meine Güte!«, rief meine Mutter aus.
    »Hältst du das für eine passende Geschichte bei Tisch?«, fragte mein Vater.
    »Wir sind alle erwachsen«, gab meine Großmutter zurück und blinzelte mir das erste Mal seit langem wieder zu. »Zu diesem Zeitpunkt, das vergaß ich zu erwähnen, hatte sie bereits ihren Namen geändert. Leona Stromberg gibt es nicht mehr, stattdessen nennt sie sich nun Mimi Étoile – ›Étoile‹ ist Französisch und bedeutet ›Stern‹.
Parlez-vous français?
« Sie sahmich an, und ich schüttelte den Kopf. Ein Bild von Pete Imhof flackerte vor mir auf, und ich tat mein Bestes, es zu ignorieren. »Ich auch nicht«, sagte meine Großmutter. »Doch zurück zu unserer Heldin. Mimi, geborene Leona, hat keine Nase und damit keine Auftritte mehr. Man will dem Publikum schließlich nicht die dunkle Seite des Zirkus vor Augen führen. Jetzt sollte man meinen, sie sei am Ende. Sie hat keine Ersparnisse, keinen Mann und ist weit weg von zu Hause. Der Zirkusdirektor geht zu ihr, um sie rauszuwerfen, und siehe da, die beiden verlieben sich ineinander. Ihr Gesicht ist in Bandagen gehüllt, wodurch er gezwungen ist, ihrer erlesenen Stimme aufmerksamer zu lauschen. Er ist etliche Jahre älter als sie, um die fünfzig, doch er macht ihr den Hof und sie zu seiner nasenlosen Braut. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, zumindest soweit es mir bekannt ist.«
    »Das ist eine äußerst merkwürdige Geschichte«, sagte mein Vater.
    »Ist sie weiter mit dem Zirkus herumgereist?«, fragte meine Mutter.
    »Eine Weile, ja, aber bald darauf kaufte er ihr ein Haus in Denver und blieb selbst auch dort, wenn er beim Zirkus nicht gebraucht wurde. Schließlich verkaufte er den Zirkus, er war ja nicht mehr der Jüngste, und verbrachte das ganze Jahr bei Mimi. Das Klima in Denver ist scheinbar recht gemäßigt, auch wenn die Berge nicht weit weg sind.«
    Ich würgte meinen letzten Bissen grüne Bohnen hinunter. »Darf ich aufstehen?«
    »Schatz, es gibt noch Karamellpudding«, sagte meine Mutter.
    »Wir schreiben morgen einen Geschichtstest.« Ich stand auf und sprach weiter, während ich rückwärts den Raum verließ. Sie sollten annehmen, das sei der Grund, weshalb ich ihnen noch immer zugewandt war. »Ich muss noch lernen.«
    In meinem Zimmer zog ich mir eine frische Unterhose an. Ich wusste nicht, was ich mit der schmutzigen machen sollte – sie in den Wäschekorb zu legen, war zu gefährlich, meine Mutter hätte sie finden können –, also knüllte ich sie zusammenund versteckte sie ganz hinten in meiner Sockenschublade. Dann ging ich ins Bad. Vor dem Pinkeln wischte ich mich mit mehreren Lagen Klopapier zwischen den Beinen ab. Ein heller, dünner, schmieriger Film klebte danach am Papier, und ich feuchtete einige weitere Lagen vorher an, bevor ich mich ein zweites Mal abwischte. Anschließend spülte ich alles die Toilette hinunter, als ob die Vernichtung der Beweismittel den Akt ungeschehen machen könnte.
     
    Am nächsten Nachmittag, mein Vater arbeitete noch, meine Großmutter saß rauchend und in der
Vogue
blätternd im Wohnzimmer, meine Mutter und ich bereiteten das Abendessen zu, ging ich von der Küche zum Wohnzimmer, blieb auf der Schwelle stehen und sagte: »Mom will wissen, ob du die Käsesoße auf oder neben den Brokkoli haben willst.«
    Meine Großmutter blickte auf. »Daneben wäre schön.«
    Ich

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