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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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dreiundzwanzigsten April«, antwortete sie. »Lisas Geburtstag ist am vierten Januar, aber sie ist erst zwei.« Lisa war die andere Tochter der Hickens.
    »Ich habe auch im April Geburtstag«, sagte ich. »Am sechsten, siebzehn Tage vor dir.« Ich öffnete das Buch und begann zu lesen: »›Einst lebten zu Paris zwölf Mägdelein …‹« Ich machte eine Pause. Als hoffte sie, in das Buch hineinkriechen zu können, hatte sich Tanya näher an mich geschmiegt; ein Impuls, den ich nur allzu gut nachvollziehen konnte. »Ich wette, du weißt, wie es weitergeht«, sagte ich und wiederholte: »›Einst lebten zu Paris zwölf Mägdelein …‹«
    »… ›in einem alten Haus, umrankt von Wein‹«, sagte Tanya.
    »›Sie aßen, tranken, schliefen in zwei Reih’n / und gingen um halb neun tagaus, tagein / spazieren (immer artig in zwei Reih’n!) / bei Regenwetter und bei …‹«
    »… ›Sonnenschein‹«, rief Tanya.
    Ich blätterte um. Auf der nächsten Seite fiel Madeline von der Brücke. »Oje«, sagte ich.
    »Sie ertrinkt nicht«, beruhigte mich Tanya.
    Wir lasen weiter, und als wir auf die nächste Seite kamen, merkte Tanya an: »Der Hund heißt Genoveva.«
    Mit dieser Art redaktioneller oder erklärender Anmerkungen fuhr sie fort, und als wir am Ende angekommen waren, fragte sie: »Liest du es noch mal vor?«
    Ich sah auf die Uhr. »Okay, aber danach gehe ich wieder nach draußen und unterhalte mich mit den Erwachsenen. Dein Daddy grillt schon das Fleisch fürs Abendessen, oder?«
    »Ich bekomme Fischstäbchen mit Remoulade.«
    »Das klingt aufregend«, sagte ich.
    Als wollte sie mich beruhigen, sagte Tanya: »Nein, nein, Remoulade ist so was wie Mayonnaise«, und ich schloss sie augenblicklich noch mehr ins Herz.
    Wir näherten uns zum zweiten Mal dem Ende des Buches, als Charlie Blackwell im Türbogen zum Wohnzimmer erschien. Ich sah auf, blickte ihn an, lächelte und las weiter. Was Tanya und ich hier machten, erklärte sich von selbst, außerdem war ich der Meinung, dass das Geheimnis im Umgang mit Kindern – es schien zumindest ein Geheimnis zu sein, wenn man sich manche Erwachsene so anschaute – darin lag, ganz normal mit ihnen umzugehen, ohne sich von jemand anderem ablenken zu lassen, ohne über ihre Köpfe hinweg zu agieren und sie wie Requisiten zu behandeln, ohne sie zu verhätscheln oder ihnen alles durchgehen zu lassen. Man sollte ihnen Aufmerksamkeit schenken, es aber auch nicht übertreiben.
    Er blieb stehen. Ich konnte spüren, wie er uns ansah, und als wir die letzte Seite erreicht hatten, stellte er seine Bierdose ab und applaudierte. Sein Klatschen übertönte den Pups, der Tanya in diesem Moment entwich, worüber ich froh war, denn sie schien trotz ihres jungen Alters genug Selbstgefühl zu besitzen,um sich für einen Pups in Gegenwart eines erwachsenen, fremden Mannes zu schämen. »Ich muss mal«, murmelte sie, rutschte von der Couch und flitzte an Charlie vorbei, der noch immer auf der Türschwelle stand.
    »Hab sie verscheucht, was?« Er dehnte leicht die Vokale, sprach aber nicht mit dem für Wisconsin typischen Akzent; es klang nasaler und zugleich gebildeter.
    »Ich glaube, sie muss aufs Örtchen«, sagte ich.
    »Dann sieht es wohl so aus, als wär dir soeben dein Vorwand, um dich verdrücken zu können, abhandengekommen.« Er nahm einen Schluck Bier und grinste.
    »Ich habe mich nicht verdrückt. Wir haben eine Geschichte gelesen.«
    »Tatsächlich?« Er sah unbestreitbar gut aus, doch sein Auftreten war mir zu großspurig. Er war knapp über einen Meter achtzig groß, hatte dichte, trockene, gewellte hellbraune Haare, die sich nicht bewegten, wenn er den Kopf schüttelte, wirkte sportlich und war leicht sonnengebräunt. Außerdem hatte er schelmisch geformte Augenbrauen und eine Adlernase, die immer ein wenig aussah, als blähe er die ausgeprägten Nasenflügel, was ihm etwas Ungeduldiges verlieh. Auf einige Menschen machte das bestimmt Eindruck – als gäbe es andere, interessantere Orte, an denen er gerade sein wollte, oder als bestünde zumindest jeden Moment die Gefahr, seine Aufmerksamkeit zu verlieren.
    »Manchmal, finde ich, steht die Gesellschaft von Kindern der Gesellschaft von Erwachsenen in nichts nach«, sagte ich trocken.
    »Touché.« Er schien nicht im Geringsten gekränkt – er grinste nach wie vor –, doch ich bereute die unfreundliche Bemerkung sofort.
    »Oder vielleicht liegt es daran, dass ich Erwachsenen oftmals nicht allzu viel zu sagen habe«, sagte

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