Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Stadt verlassen?«
»Gestern Morgen«, antwortete Johannes sofort. »Wie vereinbart sind sie beide am Tag nach dem Treffen im Verlies zu Conrad von Holdenstede gegangen, um sich ihre Geldbörsen abzuholen. Gleich darauf haben sie sich dann zwei schnelle Pferde besorgt und sind losgeritten.«
»Wann werden sie zurückerwartet?«, wollte Willekin wissen.
Wieder war es Johannes, der antwortete. »In ungefähr neun oder zehn Wochen. Vom Rat und dem Domdekan haben sie die Anweisung, nach Butjadingen zu den Überresten der Resens zu reiten, doch ich habe ihren Auftrag noch erweitert. Sie sollen sich vom Norden des Seelandes, in Langwarden, wo die Wrackteile gefunden wurden, über die größeren Kirchdörfer wie Burhave, Tossens und Bockhorn bis in den Süden nach Rastede vorarbeiten. So werden sie ganz Rüstingen nach Albert von Holdenstede absuchen, und sollte der Totgesagte wie durch ein Wunder doch noch am Leben sein, werden die Boten dafür sorgen, dass er schnell dorthin gelangt, wo er bereits liegen sollte – auf dem Meeresboden!« Bei diesen Worten legte sich ein boshafter Gesichtsausdruck auf das Antlitz Johannes’.
Der unruhige Geistliche fügte unaufgefordert noch etwas hinzu. »Vater Nicolaus war bereits einige Male in den friesischen Seeländern und wird dafür sorgen, dass er und Bodo in den ihm bekannten Kirchen und Klöstern unterkommen können. Dort wird keiner unangenehme Fragen stellen.«
»Sehr gut«, schloss Willekin begeistert.
Zufrieden mit sich und den bisherigen Ereignissen, tranken die Männer einander zu und legten sich gegenseitig die Hände auf die Schultern. Der Plan schien zu gelingen, und keiner der drei verspürte auch nur einen Funken Mitleid mit den Opfern ihrer Machenschaften. Nun würden sie einfach nur abwarten müssen, bis die Reiter nach Hamburg zurückkehrten. Erst dann waren Heseke und Ingrid mit ihrem Teil des Plans an der Reihe.
Es war nicht ganz einfach gewesen, herauszubekommen, wo der Smutje der Resens wohnte, doch Hilda kannte die Leute des Fischerviertels und wusste, wen sie zu fragen hatte. Ein paar Kringel lockerten die Zungen der Fischerjungen, und so erfuhr sie schließlich den Weg zu der kleinen maroden Hütte Heynos. Zunächst war sie dagegen gewesen, Ragnhild diesen Dienst zu erweisen, doch diese hatte Hilda unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie anderenfalls allein an jede einzelne Hütte des Jacobikirchspiels geklopft hätte.
Ragnhilds neu gewonnene Entschlossenheit ließ Hilda kaum eine Wahl, und so half sie ihrer Freundin, damit diese sich nicht durch ihr ungebührliches Verhalten ins Unglück stürzte. Zurück in der Reichenstraße, beschrieb ihr Hilda den Weg, so gut es ging.
Ragnhild schloss die Augen und versuchte krampfhaft, sich die einzelnen Straßen zu merken, doch sie zitterte vor Aufregung am ganzen Körper, und das Konzentrieren fiel ihr schwer. Es gab für sie keinen Weg mehr zurück. Sie musste mit Heyno sprechen. Sie musste erfahren, wie es Albert in der Nacht des Unglücks ergangen war. Was sie aber mit diesem Wissen anfangen wollte, das wusste sie noch nicht genau.
Dann verließ sie unbemerkt das Haus und hastete entschlossen durch die engen Gassen des Fischerviertels. Zu ihrem Glück war es in diesem Januar bitterkalt auf den Straßen, und so konnte sie ihr Gesicht in der Kapuze ihres dicken Mantels verbergen. Immer wieder murmelte sie die Sätze Hildas vor sich hin, um auch ja an den richtigen Stellen abzubiegen. Geschickt wich sie entgegenkommenden Karren aus, die fast die komplette Breite des Weges einnahmen, sprang zur Seite, als ein Nachttopf aus einer Luke über ihr geleert wurde, und verscheuchte drei dreckige Kinder, die sie nach etwas zu essen anbettelten. Eilig bog sie in die Altstädter Fuhlentwiete ein, wo sie den Kunzenhof der Schauenburger Grafen überquerte. Nun erreichte sie die Steinstraße. Zu ihrer Linken lagen das Beginenkloster und die Kirche St. Jacobi. Ragnhild wandte sich nach rechts und dann noch mal nach links. Nur noch wenige Meter, dann würde sie die Kate sehen können. Viel schneller als gedacht erreichte sie ihr Ziel. Das musste sie sein, flüsterte sie sich selbst zu. Die Beschreibung passt genau.
Ragnhilds Mund war trocken vor Aufregung, und für einen kurzen Moment hielt sie vor der Tür der Hütte inne. Was nur, wenn der Smutje sie wieder fortschickte oder wenn er ihren Besuch verriet oder ihr nur Schauriges von der Nacht im Sturm zu berichten hatte? Sie wusste nicht, was schlimmer wäre.
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