Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Welche Worte sollte sie wählen? Sie war wie erstarrt. Als sie kurz davor war, wieder kehrtzumachen, öffnete sich die Tür, und eine dralle Frau mit erstauntem Gesicht stand ihr gegenüber.
»Bitte verzeiht, ich … ich bin … wohnt der Smutje Heyno hier?«
»Ja, was wollt Ihr von meinem Mann?«, fragte die Frau misstrauisch.
Fast verließ Ragnhild auch noch das letzte bisschen Mut, doch dann holte sie noch einmal tief Luft und sagte: »Ich bin Ragnhild von Holdenstede, die Ehefrau des Kaufmanns, der mit Heyno auf der Resens nach Flandern gesegelt ist. Ich bitte Euch, lasst mich ein, und ich sage Euch, was mein Begehr ist.«
Die Frau des Smutjes trat wortlos, aber skeptisch beiseite und gewährte Ragnhild Einlass.
Sie wartete die Erklärungen der Besucherin nicht ab, sondern sagte nur kühl: »Mein Mann ist nicht da, ich werde ihn holen gehen.«
»Wartet«, stieß Ragnhild aus. »Bitte … Ihr werdet doch sonst niemandem etwas von meinem Besuch erzählen? Keiner darf wissen, dass ich hier bin.« Ohne dass Ragnhild es wollte, war ihre Stimme von der Angst gezeichnet, entdeckt zu werden.
Die dralle Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das werde ich nicht. Ich weiß zwar nicht, was Ihr von meinem Mann wollt, aber ich hoffe, dass Ihr uns keinen Ärger macht. Mein Mann hat ganz sicher nichts mit dem Tod des Euren zu tun.« Sie gab sich keine Mühe, den Argwohn in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Bevor Ragnhild etwas sagen konnte, ließ die Frau sie allein in der Hütte zurück. Es war eine kleine Hütte aus Flechtwerk und Lehmbewurf, und sie stank nach Fisch, doch in der Feuerstelle flackerten noch kleine Flammen, und Ragnhild wärmte sich dankbar die kalten Finger. Nur Augenblicke später kam der Smutje mit seiner Frau zurück.
Sofort als er sie sah, nahm er seine dreckige Mütze ab und sagte freundlich: »Seid gegrüßt, Dame Ragnhild. Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«
Ragnhild wollte ihm gerade danken, da setzte er aufmerksam nach: »Oh, die Flamme erlischt gleich. Sicherlich friert Ihr. Ghesa, leg etwas Holz nach, damit es nicht ausgeht.«
»Pah, auch das noch. Als hätte ich mit dir allein nicht schon genug Arbeit …«, murmelte die Frau des Smutjes düster vor sich hin und verschwand um die Ecke.
»Nehmt es Ihr bitte nicht übel. Meine Ghesa meint es nicht so.«
Ragnhild antwortete ihm mit einem schmalen Lächeln. Sie zitterte vor Anspannung und Kälte am ganzen Körper. Auch wenn sie sich bis zu diesem Moment erfolgreich zusammengerissen hatte, jetzt konnte und wollte sie nicht länger an sich halten. Ohne jede weitere Höflichkeitsfloskel brach es aus ihr heraus.
»Bitte verzeiht, dass ich so ungebeten in Euer Haus platze, doch ich muss wissen, was in der Nacht des Sturms passiert ist. Ich bitte Euch, sagt mir, was mit meinem Mann geschehen ist und wann Ihr ihn das letzte Mal gesehen habt.«
Ghesa kam mit einem Holzscheit zurück und entfachte das fast erloschene Feuer damit erneut.
Während dieser ganzen Handlung starrte Heyno seine Frau wortlos an.
Ragnhild kämpfte mit ihrer Ungeduld. Warum spricht er denn nicht endlich? Auffordernd blickte sie in sein Gesicht, doch er bemerkte es nicht einmal. Sie konnte ihm nun deutlich ansehen, dass er die schrecklichen Ereignisse gerade wieder in Gedanken durchlebte, und sie bekam Mitleid mit dem Mann, der so viel Schlimmes hatte erleiden müssen. Mit Mühe zügelte sie ihre Unbeherrschtheit und atmete tief durch. Sie musste Ruhe bewahren, ermahnte sie sich selbst. Sanft nahm sie den Smutje bei seinem Arm und zog ihn auf die grob gezimmerte Holzbank, die vor einem wackeligen Tisch stand. Ruckartig kam er wieder zu sich.
»Verzeiht, werte Dame. Wie war Eure Frage noch gleich?«
Beharrlich wiederholte Ragnhild ihre Worte, und Heyno fing an zu erzählen.
Selbst die mürrische Ghesa kam mit der Zeit dazu, und so saßen sie eine ganze Weile zusammen. Beide Frauen hingen an Heynos Lippen. Offensichtlich hatte auch Ghesa die Geschichte noch nicht in voller Gänze zu hören bekommen. Es fiel dem Smutje augenscheinlich schwer, darüber zu reden, doch er erzählte trotzdem sehr lebendig. Fast schien es, als wären sie alle tatsächlich mitten im Geschehen. Ohne dass es seine Absicht war, verschaffte er den Frauen eine Gänsehaut nach der anderen.
Ragnhild meinte, die Kälte, die Dunkelheit und die Todesangst der Besatzung nun am eigenen Leib spüren zu können. Unweigerlich stellte sie sich vor, wie furchtbar diese Nacht auf See für ihren geliebten Mann
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