Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Reichenstraßenfleet hinunterführten. Zwischen dem zweigeschossigen Wohn- und Lagerhaus und dem Fleet befanden sich ein Brunnen, ein Stall und ein kleiner Kräutergarten. Von der Straße aus führte ein Zugang direkt in den hölzernen Keller des Hauses. Hier wurden die Handelswaren gelagert, die auf Pferde- und Ochsenfuhrwerken durch ein großes zweiflügeliges Tor ins Innere gelangten. Mit seinen mittlerweile gräulichen Holzpfosten und den Flechtwerkwänden mit Lehmbewurf dazwischen war es eigentlich ein typisches Fachwerkhaus, wie es Hunderte in der Stadt gab, und dennoch unterschied es sich von den Nachbarhäusern. Der verstorbene Conradus von Holdenstede hatte einige Silbermark gezahlt, um sein Kaufmannshaus durch besonders große Zwillingsfensteröffnungen mit bunt bemalten Fensterläden sowie einer frommen Inschrift in dem größten Querbalken über dem Eingang zu schmücken.
Doch so schön das Haus von außen auch war, Ragnhild kam es in seinem Inneren zeitweilig vor wie in einem Verlies. Nach dem Tod ihres Schwiegervaters hatte auch die gutherzige Mechthild nur noch wenige Monate lang gelebt. Da sie zeit ihres Lebens immer eine gesunde und kräftige Frau gewesen war, blieb für Ragnhild kein Zweifel daran, dass der Kummer um ihren Gemahl sie dahingerafft hatte. Mechthilds Tod traf sie hart, war die Ratsherrnfrau doch eine ihrer wenigen Vertrauten gewesen.
Seit Mechthilds Tod lebten Conrad und Albert mit Luburgis und Ragnhild in dem Haus allein. Obwohl dieses enge Zusammenleben nicht selten zu Streitigkeiten führte und Albert und Ragnhild nur zu gerne davor geflohen wären, mussten sie hier ausharren – wenigstens noch so lange, bis Alberts Haus auf der Grimm-Insel fertiggestellt war. Ragnhild wollte sich nicht beklagen, schließlich wohnte sie weit angenehmer als viele Hamburger, doch der Bau ihres Hauses schien verflucht zu sein, und die Gegenwart von Luburgis hatte ihr mit den Jahren jedes Gefühl von Behaglichkeit genommen. Stets auf der Hut, durchstreifte sie die Räumlichkeiten des Hauses – immer gewahr davor, ihrer Schwägerin nirgends zu begegnen.
Im unteren Bereich des Hauses befand sich zur Straße hin die Diele, in der die Gäste des Hauses empfangen wurden. In den kalten Monaten wurde sie stets durch einen Kamin beheizt, und ihr Boden war mit Flechtmatten aus Stroh ausgelegt, um die Kälte etwas abzuhalten. Von hier aus gingen die Küche mit einer großen Herdstelle aus Backsteinen, die Vorratsräume und die dahinterliegenden schlichten Kammern für die Mägde ab. Über eine Treppe von der Diele aus gelangte man in den oberen Bereich des Hauses. Hier lagen die Wohnräume der Familie. Die erste und zugleich größte Kammer war die Stube der von Holdenstedes, wo gemeinsam gespeist und Besuch bewirtet wurde. Der nächste Raum war das Kontor, welches seit dem Tod des Vaters Conrad zustand. Er sah es nicht gern, wenn sich die Frauen des Hauses hier aufhielten, darum hatte Ragnhild erst wenige Male zufällig einen Blick ins Innere erhaschen können. Die Kammer war gefüllt mit einem reich verzierten Schreibtisch, auf dem stets viele Papiere, ein Tintenhorn und ein Gänsekiel lagen. Gegenüber dem Schreibtisch stand eine kunstvoll bemalte Holztruhe, die durch ein glänzendes Schloss versperrt war, und darüber hing ein Wandteppich mit Pferden und Rittern darauf, wie ihn eigentlich nur Adelige besaßen. Vor dem Schreibtisch stand ein Sessel mit ledernem Polster und erstaunlich hoher Rückenlehne. Immer dann, wenn Conrad nicht im Lager bei seinen Waren oder als Ratsmann der Stadt unterwegs war, saß er an diesem Schreibtisch und schrieb.
Neben dem Kontor befand sich eine Kammer, die Ragnhild nach Möglichkeit mied. Es war der Handarbeitsraum für die Frauen des Hauses. Hier wurden Hauben, Kleider oder Mäntel bestickt, gesponnen und gewebt. Luburgis hielt sich die meiste Zeit des Tages hier auf. Wann immer Ragnhild keine passende Ausrede bereithatte, war sie gezwungen, sich ebenfalls an ihren Stickereien zu üben. Häufig sprachen die beiden Frauen dabei stundenlang kein einziges Wort. Diese Tage waren öde und frustrierend für Ragnhild, denn sie war nicht besonders geschickt in solchen Fingerfertigkeiten. Neben dem Handarbeitsraum lagen die großzügige Schlafkammer von Luburgis und Conrad sowie die kleinere, aber dennoch wohnliche von Ragnhild und Albert. Dies war der einzige Ort im Haus, an dem sie sich gerne aufhielt, denn hier war sie stets allein mit Albert und Runa.
Heute jedoch war
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