Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
frischer Fisch klare Augen haben musste und nicht zu stark riechen durfte. Häufig hatte sie versucht, dieses Wissen an Runa weiterzugeben, doch sie interessierte sich dafür ebenso wenig wie für alles andere, was mit Hausarbeit zu tun hatte. Noch ließ Ragnhild ihr den Dickkopf durchgehen, doch eines Tages würde das Kind einen Ehemann haben und ihren eigenen Haushalt führen müssen. Oft hatte sie schon mit Sorge daran gedacht, dass ihr kleines Mädchen es einmal schwer in der Ehe haben würde, wenn sie nicht bald lernte, sich etwas gebührlicher zu benehmen.
Unwillig ging Ragnhild zu einem der Fässer, die bis oben hin mit Heringen gefüllt waren. Gerne hätte sie einen großen Seelachs mit rosigem Fleisch gekauft, doch die über alle Maßen fromme Luburgis hatte den Frauen im Hause von Holdenstede unmissverständlich klargemacht, dass solche Speisen der Völlerei gleichkamen und somit eine Sünde waren. Zudem war Hering günstig und galt deshalb als die Speise des Volkes. Um ihn lange Zeit haltbar zu machen, wurde er in Salzlake eingelegt, wodurch er einen furchtbar eintönigen, salzigen Geschmack bekam. Schon seit Langem hing er allen Bewohnern des Hauses zum Halse heraus, doch jeder Ansatz von Tadel wurde von Luburgis im Keim erstickt. Auch Conrad und Albert hätten wohl gern häufiger weißes Brot und fettes Fleisch gegessen, aber Luburgis führte den Haushalt streng und erlaubte derlei Ausschweifungen nur gelegentlich.
Ragnhild legte den ungeliebten Einkauf in ihren Korb und schaute sich nach Runa um. Eben gerade hatte sie noch neben ihr gestanden, jetzt war sie plötzlich fort. »Runa, Runa!«, rief Ragnhild und tastete den Hafen mit ihren Augen ab, während sie mit gerafften Röcken von Stand zu Stand lief. Dann plötzlich entdeckte sie ihre Tochter ein paar Schrangen weiter, wo sie noch immer nach dem singenden Fisch suchte.
»Ich habe ihn nicht gefunden, Mutter«, erklärte Runa enttäuscht und mit hängendem Kopf.
»Wie schade, mein Schatz. Vielleicht hat ihn uns jemand vor der Nase weggekauft. Bestimmt haben wir das nächste Mal mehr Glück. Sei nicht traurig«, tröstete sie ihre Tochter und strich ihr über die blonden Haare. Das Mädchen drückte ihre Wange an den kugelrunden Bauch der Schwangeren und schlang ihre kurzen Arme so weit wie möglich darum.
»Lass uns nach Hause gehen. Du hast ja schon ganz nasses Haar«, stellte Ragnhild besorgt fest.
»Soll ich deinen Korb tragen, Mutter?«
»Gerne, mein Schatz.«
Diese Geste war zu einem kleinen Ritual geworden. Auffordernd streckte das Mädchen ihrer Mutter die Hände entgegen und erntete so ein Lächeln. Natürlich trug sie den Korb nicht wirklich; Ragnhild hielt ihn an einem Ende des Haltegriffs fest, und Runa klammerte ihre kleine Hand um das andere Ende. So liefen sie immer nebeneinander vom Markt aus nach Hause.
»Wann kommt das Kind aus deinem Bauch, Mama?«, fragte Runa plötzlich.
Ragnhild war ein wenig verblüfft. Zwar hatte sie der Vierjährigen schon versucht zu erklären, dass sie bald ein Geschwisterchen bekommen würde, doch sie hätte nicht zu sagen vermocht, ob das Mädchen das Gesagte auch verstanden hatte. »Das Kindchen kommt sehr bald aus meinem Bauch, Liebes. Und wenn es dann da ist, dann wird es ganz viel Zeit bei Mama verbringen. Weißt du das schon?«
Runa schaute zu ihrer Mutter auf. Doch entgegen aller Befürchtungen zeigte die Vierjährige keine Spur von Eifersucht; sie schien sich regelrecht zu freuen und nickte. »Aber das Kind kann auch mal bei mir sein«, verlangte sie voller Begeisterung. »Dann können wir beide miteinander spielen.«
Diese Antwort versetzte Ragnhild einen kurzen Stich. Sie wusste, dass sich Runa in dem großen Haus der von Holdenstedes oft allein fühlte. Das kleine Mädchen spürte die Ablehnung von Luburgis und Conrad, doch verstehen konnte sie sie nicht. Wenn Gott wollte, dachte Ragnhild mit aufkeimender Hoffnung, würde sich das mit der Geburt des Kindes bessern.
Runa und Ragnhild waren bereits bis auf die Haut durchnässt, als sie endlich wieder in die Reichenstraße einbogen. Das Haus der Familie war bereits zu sehen. Nun trennte sie nicht mehr viel von seinem trockenen Inneren, wo sie sich am Feuer aufwärmen konnten.
Das Haus der Familie war wahrhaftig eindrucksvoll und zugleich eines der größten der ganzen Reichenstraße, die ihren Namen den wohlhabenden Bürgern verdankte, die hier wohnten. Es stand auf einem rechteckigen Grundstück, an dessen Ende drei schmale Stiegen zum
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