Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
beruhigt hatten, entschieden sie, vorerst nicht wieder aufzusteigen, sondern eine Zeitlang zu Fuß zu gehen. Der Boden war viel zu weich für ein so schwer beladenes Pferd, und auf diese Weise kamen sie deutlich schneller voran.
Nun war es Thiderich, der die Fragen stellte. Er konnte sich so vieles nicht erklären und war dankbar für jede Antwort. Schnell wurde ihm klar, dass er gar keine Ahnung von der bewegten Geschichte der Vorfahren Walthers hatte.
Dieser hingegen fragte sich verständnislos, wie ein ganzer Kreuzzug an jemandem unbemerkt vorbeigehen konnte. Wo sollte er beginnen und welche Worte waren die richtigen, damit Thiderich den Stolz der Bauern des Landes, das sie gerade durchkreuzten, verstand? Eines war klar, er musste weit ausholen.
»Also gut, hört mir zu«, begann Walther auffordernd. »Lange Zeit bevor hier überhaupt Bauern siedelten, gab es in diesem Gebiet nicht viel mehr als das Moor. Der damalige Bremer Erzbischof Friedrich I. warb darum vor mehr als hundertfünfzig Jahren holländische und sächsische Siedler an, damit sie sich in diesem Landstrich niederließen, es urbar machten und es eindeichten.«
»Sie bekamen Geld dafür?«, fragte Thiderich ungläubig.
»Nein, kein Geld. Im Gegenzug bekamen sie ihre Freiheit, Selbstverwaltung, und er versprach ihnen geringe Abgaben. Zusätzlich bekamen alle Siedler das Hollerrecht zugesprochen, welches ihnen weit mehr Privilegien zubilligte als das sächsische Recht.«
»So? Welche zusätzlichen Rechte sind das?«
»Unter anderem, dass Söhne und Töchter gleichermaßen erbberechtigt sind und dass bei Verkauf eines Grundes der Nachbar ein Vorkaufsrecht bekommt.«
»Das klingt überaus gerecht. Und was mussten die Siedler für ihn tun?«
»Ihre erste Pflicht war es, sich um den Deich, der an das eigene Grundstück grenzt, zu sorgen und auch dem Nachbarn mit seiner Deichpflege zur Hand zu gehen, sollte dieser es nicht allein besorgen können. Sobald jemand der Verordnung des Deichrechtes nicht mehr nachkommen wollte oder konnte, hatte er aber die Möglichkeit, jederzeit seinen Boden aufzugeben, indem er einen Spaten in die Erde stieß. Wer auch immer ihn herauszog, erhielt das Land mit allen Rechten und Pflichten. Die Friesen sagen dazu: Keen nich will dieken de mutt wieken , was so viel heißt wie: Wer nicht will deichen, der muss weichen .«
»Bis hierher klingt es so, als ob alle zufrieden sein konnten. Wann kam es zum Krieg und warum?«
»Ihr habt recht. Jahrelang funktionierte diese Machtverteilung sehr gut, doch das Stedinger Land wurde immer reicher und die Gier der Grafen, die in der Umgebung wohnten, immer größer. Es kam Unruhe ins Land. Die Oldenburger Grafen bauten mächtige Burgen zur besseren Kontrolle über das Volk, doch die stolzen und freien Stedinger Bauern rissen sie einfach nieder. Vor ungefähr fünfzig Jahren verweigerten sie dann schlussendlich die Abgaben an die Edlen. Nach einem Angriff auf das Kloster Hude durch die Stedinger erklärte der damalige Erzbischof die Angreifer zu Ketzern. Man warf ihnen vor, sich den Künsten von Wahrsagerinnen zu bedienen, Kirchen zu entweihen und andere Schändlichkeiten zu begehen. Doch das alles war nur ein Vorwand.«
»Aber was wollte der Erzbischof damit erreichen?«, fragte Thiderich erstaunt.
»Er wollte Krieg führen, um das wertvolle Land zu bekommen. Doch dazu brauchte er Soldaten. Und was lag näher, als die Bewohner der Städte heranzuziehen? Zoll- und Abgabenerlass sowie Ablässe ihrer Sünden durch den Papst wurden den Bremer Bürgern damals versprochen, wenn sie gegen die Stedinger Bauern in den Krieg zogen.« Walther spuckte vor seinen Füßen aus. Obwohl er die Geschichte dieses Landes lediglich erzählte, wie man sie ihm erzählt hatte, konnte man deutlich die Verbitterung in seiner Stimme hören. »So kam es, dass vierzigtausend Mann auf Befehl Heinrichs I. von Brabant im Mai 1234 gegen nur elftausend Stedinger Kämpfer unter der Führung von Thammo von Huntorp, Detmar von Dyk und Bolko von Bardenfleth ins Feld zogen.«
Thiderich lauschte begierig jedem von Walthers Worten. Dessen lebendige Erzählung ließ ihn die misstrauischen Bauern zum ersten Mal in einem anderen Licht sehen. »Wer gewann diese Schlacht?«
»Die Stedinger Bauern wurden brutal geschlagen, und diejenigen, die nicht tot oder verstümmelt auf dem Feld in Altenesch lagen, wurden nachträglich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Seither gibt es den Status eines freien Stedinger Bauern nicht mehr,
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