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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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die aufkeimenden Gedanken zu verdrängen. Die Gewissheit durchdrang ihn langsam und schmerzhaft. Sie war nicht gestolpert. Sie war auch nicht geschubst worden. Nein, Runa war zusammengebrochen, weil sie Schmerzen litt; und Walther kannte die Ursache dieses Schmerzes. Unangemessen direkt und ohne die geringste Zurückhaltung fragte Walther ungläubig: »Runa, bist du schwanger?«
    Erst in diesem Moment wurde ihr klar, wie eindeutig ihre Geste gewesen war. Sie hätte sich ohrfeigen können; wenn die Schmerzen nur nicht so heftig wären. Runa wollte verneinen oder sich wenigstens erheben, doch sie schaffte weder das eine noch das andere.
    Noch immer stand Walther mit entsetztem Gesicht über ihr und starrte sie an. Ihr Schweigen war ihm Antwort genug. Er wusste nicht, was er tun sollte. In ihm tobten so viele widersprüchliche Gedanken, und er sah sich in jenem Moment außerstande, seine Gefühle zu ordnen.
    Runa begann zu weinen. Mit belegter Stimme sagte sie: »Walther, bitte hilf mir!« Nach diesem Satz verließ sie die Kraft. Sie wollte noch so vieles sagen, so vieles versprechen oder versuchen zu erklären, doch sie konnte es einfach nicht. Ihr war klar, dass sie ihren sorgfältig zurechtgelegten Plan selbst zerstört hatte. Nun würde ihre Schwangerschaft doch auffliegen, und sie würde keine Gelegenheit mehr bekommen, das Kind unbemerkt zur Welt zu bringen. Warum sollte Walther schweigen? Er hatte absolut keinen Grund, ihren Vater, seinen Freund, in einer solch heiklen Angelegenheit zu belügen. Sie war bloß ein Weib, das sich offensichtlich unsittlich benommen hatte. Nein, er würde sie sicher nicht schützen. Sie konnte froh sein, wenn er sie nicht hier im Staub der Straße zurückließ.
    Doch wider Erwarten tat er das nicht. Wortlos, aber sichtlich erbost half er ihr aufzustehen und zog sie weiter mit sich.
    Er konnte es einfach nicht glauben. Runa hatte sich einem Mann hingegeben. Ein anderer war der Frau, die er mehr liebte als sein Leben, nah gewesen. Die Eifersucht riss ihn fast in Stücke. Wie hatte sie das tun können – noch dazu als eine Beginen-Schwester? Seine Gedanken rasten. Vollkommen hilflos klammerte er sich an der Idee fest, dass sie möglicherweise einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Dieser Gedanke löste zwar ebenso große Pein in ihm aus, doch er war weit besser zu ertragen als die Vorstellung, dass sie es aus Liebe getan haben könnte.
    Bis zu dem Zeitpunkt, da sie endlich aus der Stadt heraus waren und unter einem Baum Schutz gefunden hatten, sprachen sie kein einziges Wort mehr. Beide lehnten mit dem Rücken an dem dicken Stamm einer Eiche und atmeten schwer. Vor ihnen lag das brennende Hamburg.
    Runa beruhigte sich langsam wieder, und der Schmerz in ihrem Leib ließ endlich nach. Sie hoffte so sehr, dass Walther sie nochmals ansprechen würde, doch er schwieg eisern. Nachdem sie eine Weile unverändert still nebeneinandergesessen hatten, hielt sie es jedoch nicht mehr aus. Sie wollte etwas tun und riss einen Streifen aus ihrem ohnehin zerfetzten Beginen-Gewand heraus. Dann fing sie an, Walthers Kopfwunde damit zu versorgen.
    Walther ließ es mit sich geschehen. Obwohl ein Teil von ihm sie am liebsten von sich fortgestoßen hätte, überwog seine Liebe zu ihr. Um sich nicht zu verraten, schloss er die Augen. Er spürte ihre sanften Finger auf seiner Haut und konnte nur mit Mühe widerstehen, sie an sich zu ziehen und zu küssen.

5
    Albert hatte eine ganze Weile für das kurze Stück die Niedernstraße herauf zu Ragnhilds Haus gebraucht. Überall rannten schreiende und weinende Menschen umher. In Panik suchten sie alle nach einem Weg aus der brennenden Stadt. Albert sah Mütter, die ihre Kinder im Gedränge verloren hatten, Alte ohne Gehstöcke, die einfach umgerissen wurden, und auch jene Verletzte, deren offene Wunden noch dampften und die es ganz sicher nicht lebend schaffen würden. Er selbst wurde erbarmungslos von allen Seiten geschubst und gestoßen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ebenso brutal vorzugehen. Niemand nahm hier noch Rücksicht auf den anderen; es sei denn, er gehörte zur Familie.
    Der dichte Rauch der bereits verbrannten Stadtteile zog bereits durch die Niedernstraße. In wenigen Augenblicken würden auch diese Häuser vom Feuer verschluckt werden. Der glutrote Himmel kündigte an, wie nah die Flammen schon waren.
    Als Albert Ragnhilds Haus endlich erreichte, bemerkte er verwundert, dass die Eingangstür noch verschlossen war. Anders als bei den

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