Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
»Bitte, lasst mich gehen, Magistra. Die Stadt brennt. Ich muss wissen, ob es meinen Eltern gut geht. Vielleicht brauchen sie meine Hilfe … Lasst mich gehen! Bitte!«
Ingrid jedoch dachte gar nicht daran, Runa gehen zu lassen. Sie zerrte sie mit sich und sagte teuflisch lachend: »Du wirst nirgendwo hingehen. Wenn deine verdammte Mutter und dein verfluchter Vater heute verbrennen würden, wäre das nur die gerechte Strafe Gottes für das, was sie mir angetan haben.« Ingrid schleppte Runa in ihre Kammer und schleuderte sie dort in eine Ecke. Ihr Gesicht war zu einer verzerrten Fratze geworden. Sie schien das Feuer nicht im Geringsten zu fürchten. Alles in ihr war besessen von dem Gedanken, Runa hier festzuhalten. Sie beugte sich über ihr am Boden liegendes Opfer und sagte: »Hast du wirklich gedacht, dass ich eine solche Möglichkeit verstreichen lassen würde? Ha! Ganz bestimmt nicht. Dieses Feuer schickt der Himmel. Du wirst hier in dieser Kammer bleiben, dafür sorge ich persönlich. Selbst wenn das bedeutet, dass du hier verbrennst. Niemals werde ich dich deine missratenen Eltern warnen lassen. Eher verbrenne ich hier mit dir; hast du gehört?« Ingrid stieß ein hasserfülltes Lachen aus, das immer lauter wurde.
Runa lag noch immer auf dem Boden. Sie war zu Tode erschrocken über so viel Boshaftigkeit. Doch dieser Schockzustand währte nicht lange. Es war ihr egal, was für Bußen sie später erwarteten oder wer gerade vor ihr stand. Das kleine, trotzige Mädchen in ihr, das keine Strafe fürchtete und vor nichts und niemandem Angst verspürte, hatte sich lange Zeit tief in ihr versteckt. Doch es war noch da, und jetzt brach es aus ihr heraus. Runa stand einfach auf und stellte sich aufrecht hin. Sie konnte sehen, wie verwirrt Ingrid ob dieser Dreistigkeit war. Gerade als die Magistra etwas zu Runa sagen wollte, nutzte sie den Moment für sich aus und schleuderte ihr entgegen: »Geh mir aus dem Weg, Ingrid. Du wirst mich nicht aufhalten, du verbitterter, jähzorniger Dämon. Ich werde jetzt durch diese Tür gehen, und wenn du mich daran zu hindern versuchst, wirst du es bereuen!«
Ingrid erwachte schnell aus ihrer Starre und wollte sich auf Runa stürzen, doch diese war genau darauf vorbereitet. Wie ein Mann im Suff ballte Runa die Fäuste und schlug wild auf Ingrid ein. Die Magistra war viel zu überrascht, um auch nur einen Arm zur Abwehr zu heben. Schnell stand sie mit dem Rücken zur Wand. Runa hatte natürlich keine Erfahrung mit Schlägereien, doch ihr Zorn trieb sie an. Sie war in Rage. All die aufgestaute Wut der letzten Jahre entlud sich in ihren Schlägen. Viel zu lange hatte sie die Demütigungen Ingrids ertragen müssen. Die Begine hörte nicht, dass sie selbst während ihrer Schläge schrie und weinte. Ohne dass sie wirklich wusste, was sie tat, schlug sie gegen das Nasenbein der Magistra, die daraufhin wie ein nasser Sack zu Boden fiel. Runa blickte nicht zurück. Sie konnte nicht sehen, dass ihre Schläge ihre Widersacherin bereits getötet hatten; sie wusste nicht, dass weder sie noch ihre Mutter jemals wieder unter Ingrid von Horborg würden leiden müssen. Dann öffnete sie die Tür und rannte aus dem Kloster. Das Tor stand bereits weit offen, und die Beginen-Schwestern flohen aus dem Gebäude wie die Bienen aus ihrem Stock.
Während die meisten versuchten, über die Steinstraße in Richtung Osten die Stadt zu verlassen, rannte Runa als Einzige nach Norden; direkt in das Feuer hinein!
Schnell erreichte sie die Altstädter Fuhlentwiete, die sie zur Niedernstraße führte, in der ihre Mutter wohnte. Von überall her kamen ihr schreiende Menschen entgegen. Runa kämpfte sich mühsam durch sie hindurch und hoffte inständig, unter ihnen vielleicht auch ihre fliehenden Eltern zu entdecken – doch sie wurde enttäuscht. Als sie endlich das Haus der von Aleveldes erreichte, stellte sie erstaunt fest, dass es drinnen still und dunkel war. Die Tür war verschlossen, und nichts deutete auf eine übereilte Flucht hin. Sie flehte wortlos, dass die Familie bereits entkommen war, und pochte nur zur Sicherheit noch einmal kräftig gegen die Tür. So laut sie konnte, schrie sie dabei die Namen der Bewohner, doch weder Symon noch ihre Halbbrüder noch ihre Mutter oder die mürrische Grit kamen daraufhin aus dem Haus. Fast wollte Runa sich schon abwenden, als sich die Tür vor ihr plötzlich doch öffnete.
Es war die Magd, die durch einen winzigen Spalt herausguckte und Runa erblickte. »Grit!
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