Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
unschicklich gewesen. Auch wenn Symon von Alevelde der Tod im Feuer ereilt hatte, war Ragnhild längst keine freie Frau. Und so hielt er gerade so viel Abstand, wie es sein musste, um den Anstand zu wahren.
Plötzlich hatte das Warten ein Ende. So würdig, wie es die Umstände zuließen, traten zunächst die Dingleute, dann der Schreiber und die ratsherrlichen Beisitzer und schließlich der gräfliche Vogt aus der Menge hervor. Jeder von ihnen schritt einzeln zwischen den Hamburgern hindurch; jeder wurde genau beäugt. Wo zunächst alle verstummt waren, wurde das Raunen plötzlich wieder lauter. Eine grausige Vermutung wurde in diesem Moment zur Wirklichkeit, und sie betraf die Männer des Niedergerichts. Da die beiden entsprechenden Advocati offensichtlich bei dem Brand ums Leben gekommen waren, hatten Johann Schinkel und Thedo von der Mühlenbrücke diese Ämter eingenommen. Auch der Vogt war ein anderer als noch vor dem Brand. Es stand außer Frage, dass auch sein Vorgänger in den Flammen sein Ende gefunden hatte. Doch es blieb kein Platz für Betroffenheit, denn in diesem Augenblick hieß es, das eigene Leben zu sichern, welches nun ganz entscheidend von den Schiedssprüchen des Niedergerichts abhing.
Johann hatte kaum geschlafen. Noch immer gab es kein einziges Lebenszeichen von Runa. Auch wenn es ihn beunruhigte, durfte er sich kaum darüber wundern. Sie hatten beide keinen entschuldbaren Grund, nach dem jeweils anderen zu suchen, ohne Misstrauen zu erregen. Auch das kleine Häuschen, in dem sie sich stets getroffen hatten, war restlos abgebrannt und konnte ihnen nicht mehr als geheimer Ort dienen. Wie also hätte sie sich bemerkbar machen sollen?
Als Johann nun aber durch die Menschentraube schritt, versuchte er sie mit seinem Blick aufzuspüren. Immer wieder grüßte er links und rechts, schaute jeden Anwesenden lange an und mindestens genauso lange an ihm vorbei, bis er sie endlich leibhaftig zu sehen bekam. Inmitten der Bittsteller stand sie, nur eine Armeslänge von ihm entfert. Sie lebte! Ihr Blick war erschöpft, aber sonst schien sie unversehrt zu sein. Johanns Herz machte einen Sprung.
Runa hatte ihn schon viel früher gesehen. Auch ihr Herz frohlockte, doch sie durfte sich nichts anmerken lassen. Wahrlich bemüht, ihm nur nicht direkt in die Augen zu schauen, um ihre Gefühle nicht zu offenbaren, blickte sie überallhin, nur nicht zu ihm. Irgendwann jedoch hielt sie es nicht mehr aus und wagte es, kurz zu ihm hinüberzuschauen. In genau diesem Moment hob auch er den Kopf in ihre Richtung, sodass ihre Blicke sich trafen.
Runa erstarrte. Den Mund leicht geöffnet und der Atem flach und leise, fingen ihre Wangen augenblicklich an zu glühen.
Schnell wandten beide ihre Gesichter voneinander ab. Allein ihre Blicke schienen schon die Macht zu haben, sie zu verraten.
Mit aller Kraft zwang Johann sich dazu, seine Gedanken zu ordnen und weiter geradeaus zu gehen. Er brauchte einen klaren Kopf, denn heute würde ein wichtiger Tag werden. Er atmete tief durch und befreite seine Gedanken einen kurzen Moment von seiner geliebten Runa. Diese Übung war ihm in seiner Zeit als Geistlicher in Fleisch und Blut übergegangen. Schon im nächsten Moment war er wieder voll und ganz Hamburgs Ratsnotar, und als er seinen Platz einnahm und in die Menge blickte, wurde ihm klar, dass es das erste Mal sein würde, dass Runa ihn bei der Ausübung seines Amtes zu sehen bekam.
Die Menge verstummte, und die Herren des Niedergerichts fanden sich nach und nach ein. Auch wenn zwei Mitglieder des Rates dem Niedergericht beisaßen, führte dennoch der Vogt den Vorsitz. Doch seine Befugnisse waren beschränkt. Ursprünglich hatten die Advocati bloß die Einnahmen des Vogtgerichts überwachen sollen, dann aber den Vogt und seine Urteile selbst, und schließlich weiteten sich ihre Befugnisse sogar auf den Bereich der Urteilsfindung aus. Die Männer des Rates besaßen also ein ernst zu nehmendes Mitspracherecht.
Johann Schinkel hatte seine Gelegenheit gewittert, als er sich für den Platz des verstorbenen Beisitzers zur Verfügung stellte. Jeder einzelne seiner kommenden Sätze war darum von ihm wohl überlegt worden. Er hatte ein klares Ziel vor Augen, und um das zu erlangen, wandte er sich zunächst dem Vorsitzenden zu und überreichte ihm ein zusammengerolltes Schriftstück.
Der Vogt hatte dies offensichtlich bereits erwartet, denn er nahm die Papierrolle mit einem Kopfnicken entgegen und entrollte das Schreiben vor sich auf
Weitere Kostenlose Bücher