Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Geröll. Auf den ersten Blick schien nichts dem Feuer entkommen zu sein, doch dann plötzlich fiel sein Augenmerk auf etwas, das in der Ecke zweier Wandreste stand. Johann erkannte sofort, was es war – es handelte sich um die cista civitatis , die Stadtkiste!
Er konnte es kaum glauben und musste näher herangehen, um sich davon zu überzeugen, dass ihm seine Augen auch wirklich keinen Streich spielten. Ausgerechnet diese Kiste, in der allerlei Urkunden der Stadt aufbewahrt wurden, hatte das Feuer verschont.
Als Johann genau vor ihr stand, konnte er erkennen, dass sie tatsächlich noch mit all ihren drei Schlössern verschlossen war; und er als Stadtnotar von Hamburg hatte die passenden Schlüssel zu den Schlössern. Da die Kiste für ihn allein zu schwer zu tragen war, öffnete er sie einfach gleich vor Ort.
Sofort schlug ihm der Geruch von geschmolzenem Wachs entgegen. Johann wusste, was das zu bedeuten hatte. Die wächsernen Hängesiegel der Stadturkunden hatten die Hitze nicht überlebt und einige der Papiere miteinander verklebt. Doch andere wiederum waren vollkommen unversehrt. Wie lange schon hatte er diese Unterlagen nicht mehr zur Hand genommen? Bereits seit vielen Jahren lagerten sie hier drinnen – vermeintlich sicher verwahrt. Nun schaute er sich jede Einzelne von ihnen genau an.
Johann hätte nicht sagen können, wie lange er bereits so dasaß, als er plötzlich eine Entdeckung machte. In den Händen hielt er ein ihm völlig fremdes Dokument. Neugierig las er es von vorn bis hinten durch. Noch immer verwirrt von dem Inhalt dieses Schreibens, wühlte er weiter in den verklebten Papieren. Er suchte etwas ganz Bestimmtes, und er fand es schließlich auch.
Mit offenem Mund hielt er beide Papiere nebeneinander und verglich sie miteinander. Es durchfuhr ihn wie ein Blitz!
Diese Dokumente stellten die Vergangenheit in ein völlig anderes Licht. Wie konnte es sein, dass niemand bisher davon gewusst hatte? War das ihm bislang unbekannte Papier womöglich heimlich in die Stadtkiste gelegt worden? Natürlich, so musste es gewesen sein. Der Verfasser selbst hatte es hier hinterlegt, für den Fall, dass die Wahrheit eines Tages verfälscht würde – und genauso war es ja auch gekommen. Eine Lüge hatte sich durchgesetzt – oder noch viel schlimmer – möglicherweise ein Verbrechen!
Doch auch wenn dieses Dokument bisher unentdeckt geblieben war, wollte Johann nun selbst dafür Sorge tragen, dass die Wahrheit nach so vielen Jahren doch ans Licht kommen würde.
Vier Tage nach dem Brand fanden sich Albert, Margareta, Runa, Walther und Ragnhild zusammen mit nahezu allen anderen Überlebenden vor dem Vogtgericht wieder.
Da alle Versammlungssäle abgebrannt oder zumindest dem Verfall nahe waren, tagte das Gericht unter freiem Himmel. Der Schreiber, die elf Dingleute mit ihrem rechtskundigen Wortführer und die Beisitzer mussten mit behelfsmäßigem Gestühl und einem Tisch aus einer breiten Holzplanke, die auf zwei Schemeln ruhte, auskommen, und selbst der Vogt hatte wohl noch niemals auf einem solch unbequemen und unwürdigen Richterstuhl gesessen. Wäre die Lage nach dem Brand nicht so ernst gewesen, hätte das ehrenwerte Niedergericht heute ein wahrhaft belustigendes Bild abgegeben.
Der Platz vor dem Roland war mit Bittstellern, Anklägern und Angeklagten vollkommen überfüllt. Obwohl die steinerne Figur mittlerweile zu einem Zeichen des veralteten neustädtischen Rechts geworden war, schienen die Bürger sich nicht von seiner ursprünglichen Bedeutung lossagen zu können – schließlich galten Rolandstatuen allgemein als Zeichen bürgerlicher Freiheit. So schien es fast, als ob die Überlebenden Hamburgs sich an diesem Tage besonders eng um den steinernen Ritter mit seinem Richtschwert reihten; stets in der Hoffnung, durch ihn Gerechtigkeit zu empfangen.
Sie alle bestanden heute auf ihrem Recht – viel mehr noch als es sonst der Fall gewesen war. Überfällige Zahlungen, ausstehende Warenlieferungen oder vorzeitig eingetriebene Schuldsummen konnten heute das Überleben bedeuten. Gnade war an diesem Tage nicht zu erwarten. Es herrschte ein beständiges Murmeln, und jeder der Anwesenden wartete mit Spannung darauf, dass die Sitzung begann. Ragnhild, Runa und Margareta fassten einander an den Händen und drängten sich haltsuchend aneinander. Auch wenn sie keine Worte mehr hatten, gab die Nähe und Vertrautheit der anderen ihnen Kraft.
Gerne hätte Albert sich zu ihnen gesellt, doch das wäre
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