Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Obdach. Nur zu gern kam die Schneidersfamilie dem Wunsch Runas nach und nahm sie selbst, ihre Mutter sowie auch Walther, Albert und Margareta bei sich im Hause auf.
Thiderich, Ava und ihr Kind kamen bei Avas Verwandtschaft, der Familie von Staden, unter, die ebenfalls ein unversehrtes Erbe in der Altstadt besaß. Sie waren dankbar darüber, einander noch zu haben, doch wo Ava lediglich den Tod ihres Bruders Helprad zu beklagen hatte, war von Thiderichs Verwandten keiner den Flammen entkommen. Sein Oheim Heyno und seine Tante Ghesa waren bereits alte Leute gewesen. Bis zu diesem Tage gab es keine Spur von ihnen, und so musste er sich damit abfinden, dass sie wahrscheinlich im Feuer ihr Ende gefunden hatten. Einzig die Tatsache, dass jeder einen Verlust in seiner Familie zu beklagen hatte, ließ den Kummer für ihn erträglich erscheinen.
6
Johann Schinkel saß gerade im Lübecker Rathaus über einem Stapel Papier, den es zu bearbeiten galt, als er von dem verheerenden Unglück in Hamburg hörte. Seine ersten Gedanken galten Runa. Hatte sich seine Liebste retten können?
Johann wusste nicht, wie schlimm es die Stadt getroffen hatte. Nachrichten, die ihn erreichten, waren widersprüchlich. Mal hieß es, dass es nur wenige Teile der Stadt getroffen hatte, dann wiederum, dass es kaum Überlebende gab. Nichts konnte ihn mehr in Lübeck halten; noch am selben Tage ritt er wie der Wind in seine Heimat.
Zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass die schlimmsten aller ihm angetragenen Nachrichten Bestand hatten. Schon von Weitem sah er bereits den Rauch am Himmel. Noch immer schien das Feuer nicht ganz gebannt.
Als er die Stadt dann durch ihr östlichstes Tor betrat, traf es ihn mitten ins Herz. Nur schwerlich konnte er sich vorstellen, dass überhaupt jemand lebend hier herausgekommen war. Doch dann sah er tatsächlich die ersten Menschen. Allesamt waren sie rußverschmiert, und der Schrecken stand ihnen noch immer im Gesicht. Ob reich oder arm, sie sahen alle gleich aus. Kein feiner Zwirn war zu sehen, keine langen Schnabelschuhe oder bestickte Gugelhauben. Alle waren sie in Lumpen gehüllt, sodass Johann bei manchen von ihnen wahrlich Schwierigkeiten hatte, sie zu erkennen.
Langsam ritt er durch die Stadt. Hier und da schwelte noch Glut, doch niemand kam, um diese Brandherde zu löschen. Warum sollten sie auch? Es gab schließlich fast nichts mehr, worauf das Feuer noch übergreifen konnte.
Als sein Pferd zum wiederholten Male vor einem rauchenden Holzhaufen scheute, der einmal ein Haus gewesen war, stieg Johann ab und führte es weiter. Sein Ziel war das Rathaus – sollte es denn überhaupt noch stehen.
Auf seinem Weg hielt er immer wieder Ausschau nach Runa. Er blickte in jedes Gesicht, betrachtete die Statur und den Gang einer jeden Frau. Er war sich sicher, dass er sie sofort erkennen würde, doch er hatte kein Glück. Als er endlich zu dem Platz kam, wo das Rathaus einst gestanden hatte, erblickten seine Augen lediglich einen eingestürzten Ziegelbau, von dem nur noch zwei Außenwände standen. Die Steine waren schwarz vor Ruß und das Holzdach komplett verschwunden.
Entsetzt ließ er die Zügel seines Pferdes aus den Fingern gleiten. Das, was noch vom Rathaus übrig war, machte den Eindruck, als würde es nicht einmal mehr dem leichtesten Lüftchen standhalten. Johann war fassungslos. Dieses Haus war ihm stets unzerstörbar vorgekommen; sei es, weil es aus Stein gebaut war oder weil es ein so bedeutungsschweres Gebäude für die Stadt Hamburg gewesen war. Dass es nun in Schutt und Asche vor ihm lag, löste in ihm die bittere Erkenntnis aus, dass nichts wirklich unzerstörbar war, wenn es Gott nicht mehr gefiel.
Voller Demut und mit schwerem Herzen legte er die Hand auf ein kleines Stück der Außenmauer, das noch aufrecht stand. Dann schritt er an dem Gebäude entlang. Immer wieder fiel sein Blick auf die Zerstörung im Inneren des Rathauses. Er sah Reste des großen Holztisches und das ein oder andere Teil der prunkvollen Sessel und Bänke, auf denen die Bürgermeister und Ratsherren bei jeder Sitzung gesessen hatten. So viele Stunden seines Lebens hatte er hier zugebracht, und nun war dieses ihm so vertraute Haus für immer zerstört. Johann griff nach einem mannshohen Holzbalken, um sich daran festzuhalten, während er vorsichtig einen Fuß nach dem anderen ins Innere des Gebäudes setzte. Auch wenn es schmerzte, er wollte alles genau anschauen. Seine Füße trugen ihn langsam über das verbrannte
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