Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
deutlich hörbar ein und schloss die Augen. Seit Jahren schon wusste sie, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Warum aber musste es heute sein? Einen letzten Ausweg suchend, fragte sich Hilda, ob sie ihre Tochter vielleicht auf den nächsten Tag vertrösten sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Marga war alt genug. Eines Tages würde sie selbst nicht mehr sein, und dann würde Marga allein unter den Herren des Hauses dienen – Hilda wollte nicht, dass sie gänzlich unwissend war. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, es war ihre Pflicht, es ihr zu erzählen.
»In Ordnung, höre mir zu, mein Kind. Du kennst noch nicht die ganze Wahrheit«, gestand sie deshalb endlich.
Marga blickte auf. »Was meinst du damit, Mutter? Die ganze Wahrheit über was ?«
»Über Ragnhild. Ich habe dir stets erzählt, dass sie ebenso in das Haus der von Holdenstedes kam wie wir, dass sie hier einfach eines Tages als kleines Waisenmädchen angestellt wurde, doch das stimmt nicht ganz.«
Sichtlich überrascht fragte Marga: »Aber wie war es dann? Woher kommt Ragnhild?«
Hilda begann zu erzählen. Sie hatte sich entschieden, ganz vorn in der Geschichte anzufangen, damit hinterher keine Fragen mehr übrig blieben. »Zu Zeiten unserer ersten Begegnung war Ragnhild keine Waise, sondern nur eine Halbwaise. Sie war mit ihrer Mutter aus dem fernen Dänemark nach Hamburg gekommen, nachdem ihr Vater kurz nach ihrer Geburt umgebracht worden war. Der damalige dänische König Erik IV. hatte sich eine neue Steuer erdacht, um die Kämpfe gegen Estland zu finanzieren. Jeder Däne, der einen Pflug besaß, sollte ab sofort eine Pflugsteuer an den König zahlen. Die Steuereintreiber von König Pflugpfennig, wie ihn die Bauern fortan spöttisch hinter seinem Rücken nannten, waren gnadenlose Schlächter. Als Ragnhilds Vater eines Tages nicht zahlen konnte, geriet er mit ihnen in Streit und wurde kurzerhand erschlagen.«
»Oh Mutter, das ist ja schrecklich«, stieß Marga betroffen aus. »Was geschah dann?«
»Nun, Ragnhilds Mutter blieb allein mit ihrem Säugling zurück. Sie war jung und hilflos und natürlich voller Furcht vor der nächsten Steuer, die sie ohne ihren Mann erst recht nicht mehr hätte zahlen können. Und so beschloss sie, alles hinter sich zu lassen, und flüchtete mit ihrer Tochter in Richtung Hamburg, wie so viele ihrer Landsleute. Irgendwann erreichte sie völlig entkräftet die Tore der Stadt, doch ein jeder Versuch, auf den umliegenden Höfen als Magd unterzukommen, scheiterte. Sie musste feststellen, dass viele der alten Bauern noch immer einen Groll gegen die Dänen hegten, und so wurde sie von allen fortgeschickt. Das kleine Kind an ihrer Brust, ihr abgerissenes Aussehen und die fremde Sprache machten es nicht leichter. Ihre Lage wurde immer schlimmer. Den ganzen Herbst lang ernährten sie sich wohl nur von dem, was der Wald ihnen bot, doch dann kam der Winter. Ragnhilds Mutter fing an, des Nachts, bevor die Stadttore schlossen, in die Stadt zu gehen, um zu stehlen. Doch die Anstrengungen der Flucht und das entbehrungsreiche Leben im Wald ließen sie nach einigen Wochen schwächer werden. Sie wurde krank. Ich denke, dass beide wohl kurz darauf gestorben wären, wenn sich nicht eines Tages jemand ihrer erbarmt hätte.«
»Wer hat sich ihrer erbarmt? Ein Geistlicher oder ein Hospital?«
»Nein, mein Kind. Es war Alberts Mutter Mechthild.«
Marga klappte wieder der Mund auf.
»Als Ragnhilds Mutter eines Nachts mit letzter Kraft in die Stadt schlich, schaffte sie es gerade noch bis in die Reichenstraße. Vor dem Haus der Familie von Holdenstede brach sie zusammen. Hier fand sie Alberts Mutter Mechthild. Trotz ihres Standes hat sie keinen Moment gezögert, die Bewusstlose und ihr Kind bei sich aufzunehmen, um sie gesund zu pflegen. Dominus Conradus ließ es geschehen, wenn auch erst nach einigem Protest. Ich kann dir sagen, Kind, Domina Mechthild war eine fügsame Frau gewesen. Niemals stellte sie sich gegen die Wünsche ihres Mannes oder begehrte sonst irgendwie auf; nur dieses eine Mal war es anders. Mechthild war sehr fromm und bestand auf die Einhaltung des Gebotes der Nächstenliebe. Die Wochen darauf bemühte sie sich sehr, die kranke Frau gesund zu pflegen, doch der zierliche Körper von Ragnhilds Mutter war bereits zu sehr geschwächt. Nach einem ständigen Wechsel zwischen nahender Genesung und plötzlichen Rückfällen starb sie schließlich doch. Nun ja, und so kam es, dass Ragnhild zur Vollwaise
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