Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
Vom Netzwerk:
Petrikirche die unterschiedlichsten Schichten, angefangen mit den Handwerkern, Bäckern und Müllern bis hin zu den wohlhabenden Bewohnern der Reichenstraße. Ragnhild empfand das als angenehm; aufgrund ihrer Herkunft umgab sie sich viel lieber mit den einfachen Leuten als mit dem meist hochnäsigen Kaufmannsvolk.
    Der Weg in die Kirche war den Stadtbewohnern so geläufig wie der Gang zum Markt. Es war die Zeit des Tages, wo alle Arbeiten ruhten und wo Neuigkeiten unter den Nachbarn die Runde machten. Hier und da wurden Begrüßungen ausgetauscht und Einladungen ausgesprochen. Manch liederliches Frauenzimmer erregte den Neid der anderen Frauen durch ein besonders kostbares Kleid und manch ein Jüngling die Aufmerksamkeit eines Mädchens durch versteckte kecke Gesten. All dies geschah natürlich so heimlich, dass der jeweilige Pfarrvikar nichts davon mitbekam.
    Seit Hilda und Marga überwiegend bei den von Holdenstedes in der Reichenstraße wohnten, gingen sie häufig mit Ragnhild zur Petrikirche, obwohl sie wegen des Standorts ihrer Hütte offiziell zum Kirchspiel St. Jacobi gehörten. Normalerweise war es für die Parochianen eines Kirchspiels im Allgemeinen nicht ohne Weiteres möglich, das Kirchspiel zu wechseln, doch Hilda und Marga waren nicht vermögend und brachten dem Pfaffen der Kirche St. Jacobi deshalb auch nur wenig ein.
    Sehr wahrscheinlich hatte er deshalb so leicht auf sie verzichten können, dachte Ragnhild etwas abschätzig. Sie hätte es nie laut ausgesprochen – schon gar nicht vor der strenggläubigen Hilda –, aber Ragnhild hielt alle Geistlichen für korrupt. Schon seit ihrer Kindheit spürte sie, dass ihr Glaube nicht so gefestigt war wie der ihrer Mitmenschen. Den Grund dafür kannte sie nicht, und es störte sie auch nicht, in dieser Sache einfach anders zu sein als andere. Doch war es für sie darum nicht nachzuvollziehen, woher all die anderen Damen ihren tiefen Glauben nahmen. Ihrer Ansicht nach ging es den hohen Würdenträgern der Gotteshäuser häufig nicht um das Seelenheil des Volkes, sondern vielmehr um Geld und Macht. Einige der Geistlichen zeigten sogar ganz öffentlich ihre Abneigung gegenüber den einfachen Leuten. Wo die Bürger eigentlich Ansprache und Fürsorge bekommen sollten, erfuhren sie meist nur Tadel und Schelte. Nach Ragnhilds Meinung konnte diese Tatsache wirklich nur denjenigen verborgen bleiben, die vor lauter Beten nicht mehr klar denken konnten. Und zu diesen Leuten zählte sich Ragnhild ganz bestimmt nicht.
    Als sie über den alten Marktplatz Richtung Sattlerstraße gingen, schien Hilda Ragnhilds Gedanken zu lesen, denn sie rief: »Marga, Runa, kommt her zu uns. Nicht so weit vorlaufen.«
    Artig kamen beide Mädchen zurück, und Runa ließ sich sogar an die Hand nehmen. Doch wie immer konnte sie sich mit ihren unzähligen Fragen nicht zurückhalten, obwohl man das eigentlich von einem folgsamen Mädchen erwartete. Mit Blick auf den Dom, der nun zu ihrer Linken lag, fragte sie: »Mutter, warum gehen wir nicht in die große Kirche?«
    Ragnhild folgte dem Blick der Vierjährigen und musste über die Kindlichkeit der Frage lachen. »Das ist keine Kirche, mein Schatz. Das ist ein Dom.«
    »Was ist ein Dom?«
    Dass diese Frage nun kam, hätte Ragnhild sich eigentlich denken können. Mit einem fast flehentlichen Blick zu ihrer Freundin sagte sie: »Nun, das kann dir Hilda viel besser erklären.«
    Hilda schüttelte gespielt entrüstet den Kopf, wandte sich dann aber gleich Runa zu. Im Gegensatz zu Ragnhild machte es ihr außerordentlich viel Freude, den Kindern etwas über die heilige Kirche beizubringen, die ihr so wichtig war. »Ein Dom ist so etwas wie eine Mutter, und die Kirchen sind so etwas wie ihre Kinder. Soll ich dir etwas mehr über den Dom erzählen?«
    »O ja«, antwortete plötzlich Marga, die mit Runa zwischen ihrer Mutter und Ragnhild ging.
    »Also gut«, antwortete Hilda erfreut und blieb kurzerhand vor dem Eingangsportal des Mariendoms stehen. Sie überlegte geschwind, wie sie anfangen sollte, denn nun musste sie ihr Wissen ja so weitergeben, dass es Marga und Runa gleichermaßen verstanden. »Als es noch keine Kirchen in Hamburg gegeben hat, sind die Menschen immer in den Dom zur Messe gegangen. Dann aber sind ganz schnell ganz viele Menschen in die Stadt gezogen, und der Dom reichte nicht mehr für alle aus. Deshalb wurde vor fast hundert Jahren zunächst die Kapelle St. Petri zu einer Pfarrkirche ernannt und in den letzten sechs Jahren auch noch

Weitere Kostenlose Bücher