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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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wilden Schreien in Richtung Reling.
    Arnoldus fingerte vergeblich an den Tauen herum, mit denen er sich am Schiff festgemacht hatte. Doch die Nässe und die Eiseskälte in seinen Händen ließen ihn immer wieder vom Tau abrutschen. Laut fluchte er vor sich hin.
    Albert sah, wie das Kind hin- und hergeschleudert wurde, und er verstand, dass Arnoldus ihm wohl nicht mehr rechtzeitig würde helfen können. Nur einen Wimpernschlag später warf sich Albert auf den Boden und krabbelte auf den Jungen zu. Immer wieder schrie er: »Komm her zu mir! Komm hier rüber!«
    Der Schiffsjunge schrie ebenfalls und versuchte alles, um zu seinem Retter zu gelangen. Doch die Wellen waren stärker.
    Riesige Wassermassen und scharfkantige Eisschollen klatschten auf das Schiffsdeck und trugen Albert und das Kind immer näher in Richtung Reling. Plötzlich wurde der Junge von einer der mächtigen Eisschollen im Gesicht getroffen. Für einen kurzen Augenblick wurde sein Kopf in einem unnatürlichen Winkel zur Seite geknickt, dann sackte sein Körper regungslos zusammen.
    Die Kogge bäumte sich auf. So hoch und so schnell, dass alle an Bord anfingen zu schreien. Mit gewaltiger Wucht knallte sie zurück aufs Wasser. Der leichte Jungenkörper wurde durch die Luft geschleudert und versank augenblicklich im nachtschwarzen Meer. Die Fassungslosigkeit der Besatzung war förmlich greifbar, nur dem Schiffsherrn entfuhr ein gellender Laut, der klang wie das Heulen eines waidwunden Tieres.
    Albert versuchte sich festzukrallen, doch er lag schutzlos und ohne Halt in der Mitte des Schiffs. Nur ein Tau, welches am Mast befestigt war, schleuderte wild vor ihm herum. Nach mehreren vergeblichen Versuchen bekam er es tatsächlich zu fassen. Er verfolgte keine bestimmte Idee zur Rettung seiner selbst, sondern handelte nur instinktiv. Mit Armen und Beinen klammerte er sich an das Tau. Er durfte es nicht loslassen, dann wäre er verloren. Dieser Gedanke beherrschte ihn fortan. Mehrfach hob sein ganzer Körper ab, nur um dann wieder schmerzhaft auf die Planken zurückgeschleudert zu werden. Nach einer Weile hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Wenn er sich zuvor immer mal wieder nach der Besatzung umgesehen hatte, brauchte er mittlerweile all seine Sinne für sich.
    Alberts Kräfte ließen nach, doch der Sturm wurde stärker. Wann würde es endlich aufhören? Wie lange würde er sich noch halten können? Seine gefrorenen Hände bluteten bereits von der Reibung an dem rauen, nassen Tau. Sein ganzer Körper schmerzte vom Zurückschnellen auf das Deck. Sein Schädel hämmerte. Blut von seiner Stirnwunde lief ihm ins Gesicht und in die Augen. Und als Albert dachte, es nicht mehr länger aushalten zu können, ging ein erneuter Ruck durch das Schiff. Er vernahm ein Quietschen und ein Knirschen und schließlich das Geräusch von berstendem Holz.
    »Wir sind aufgelaufen!«, schrie eine Männerstimme in Panik. »Wir gehen unter!«
    Albert sah sich panisch um. Spielten ihm seine Ohren einen Streich? Bildete er sich die Geräusche und Rufe nur ein? Wie wild suchten seine Augen einen Beweis für das vermeintlich Gehörte; und er bekam ihn.
    Rasend schnell schien die Kogge dem Meer näher zu kommen. Sie sanken tatsächlich! Albert wusste, dass er machtlos war. Er konnte nicht schwimmen, und das Wasser war eiskalt. Nur Gott wusste, wo genau auf dem Meer sie sich befanden und wie weit sie vom Festland entfernt waren.
    In seiner Verzweiflung fing er an, das Paternoster zu beten, und schloss die Augen. Er dachte an Ragnhild, an Runa und an die Zwillinge. Nun würde er sie alle nie wieder sehen. Noch ein letztes Mal versuchte er ihre Gesichter vor sein geistiges Auge zu rufen. Ragnhild. Seine große Liebe. Für einen kurzen Moment war er tatsächlich bei ihr. Fast meinte er sie fühlen zu können. Ihr goldenes Haar und ihre weiche Haut. Ich muss jetzt gehen, meine Ragnhild, erklärte er ihr stumm. Es tut mir leid. Sie schien die Hand nach ihm auszustrecken und zu lächeln. Auch er streckte die Hand nach ihr aus, doch er griff ins Leere. Ragnhild war verschwunden.
    In diesem Moment wurden seine Beine von dem eiskalten Wasser der Nordsee umspült. Der Schock presste Albert die letzte Luft aus dem Körper. Er ließ das Tau los und glitt in die Fluten. Ohne Kampf ergab er sich. Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen, und plötzlich war es still um ihn herum. Der Sog des untergehenden Schiffs zog auch ihn mit hinunter, und das Letzte, was Albert sah, war ein Stückchen des fast

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