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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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Zimmer umherzuwandern. Sie wollte wieder zu Kräften kommen, und das würde sie nicht, wenn sie nur herumlag. Zuerst fiel es ihr schwer, längere Zeit zu stehen, doch ihr Wille war stark, und ihre steifen Glieder beugten sich dem alsbald. Am Abend dann trat sie an die kleine Luke ihrer Kammer und schaute in die vom Wind aufgewirbelten dunklen Wolken des dämmrigen Abendhimmels. Die Luft war kalt und von Regen erfüllt. Ein Sturm zog auf. Mit Wehmut und Sorge fragte sie sich, wo Albert wohl sein mochte und ob auch er gerade an sie dachte. Ragnhild war sich sicher, denn heute war sein fünfundzwanzigster Geburtstag!
    Drei Tage später hatte Ragnhild sich so weit erholt, dass sie endlich wieder vor die Tür treten konnte.
    »Ich habe fast vergessen, wie herrlich der Sonnenschein ist, Hilda«, schwärmte sie und streckte ihr Gesicht dem wolkenlosen Winterhimmel entgegen.
    Die Magd musste lachen und sagte: »Du hast ja auch lange genug in deiner Kammer gelegen. Es wurde wirklich Zeit, dass du wieder hinausgehst. Während des furchtbaren Sturms vor drei Tagen dachte ich allerdings, dass uns der Sonnenschein länger verwehrt bliebe.«
    »Ja, das schöne Wetter heute ist tatsächlich ein Geschenk Gottes. Keine Spur mehr von Wind und Regen.«
    Es war Sonntag, und die Frauen hatten beschlossen, nach dem Besuch der heiligen Sonntagsmesse in der Kirche St. Petri in das Viertel der Fischer im Kirchspiel St. Jacobi zu gehen. Ziel war die kleine Hütte von Hilda und Marga. Schon lange wollte Hilda die Hütte verkaufen, doch sie brachte es einfach nicht übers Herz. Zu viele Erinnerungen an ihren geliebten Mann hingen daran.
    Ragnhild hatte den Anstoß zu dieser Idee gegeben. Sie wollte einfach hinaus. Weg von Luburgis, gegen die sie sowieso nichts auszurichten vermochte, und weg aus der Dunkelheit des Hauses.
    Runa und Marga gingen Hand in Hand vorweg und unterhielten sich. Auch wenn Kinder unter zwölf Jahren eigentlich nicht gern auf den Kirchgängen oder Hochzeiten gesehen waren, wurden sie dennoch geduldet, sofern sie sich still verhielten und immer in Gegenwart der Mutter oder einer Magd waren. Ragnhild wusste das und ließ Runa darum oftmals zu Hause. Ihre Erstgeborene konnte wild und ungestüm sein, doch heute wollte sie einfach nicht auf ihr Mädchen verzichten. Liebend gern wäre sie mit all ihren Kindern durch die Straßen spaziert, doch dann hätte Luburgis wohl einen Schreikrampf bekommen, wegen all der Gefahren, die hier angeblich auf die Kinder lauerten. Sie übertrieb es mächtig mit ihrer Fürsorge. Wenn es nach ihr ginge, würde sie die Zwillinge wohl wie teures Porzellan in gefüllten Butterfässern von einem Ort zum nächsten bringen, damit sie auch ja unversehrt blieben.
    Ragnhild musste sich leider eingestehen, dass sie nach ihrer Genesung lediglich einen kleinen Teil der Kontrolle über Godeke und Johannes wiederbekommen hatte, den viel größeren Teil jedoch hatte sie zwangsweise an Luburgis abtreten müssen. Aber mit dieser Ungerechtigkeit sollte es bald vorbei sein. Ragnhilds ganze Hoffnung konzentrierte sich nun auf die Rückkehr Alberts und die damit neu einkehrende Ordnung. Schließlich war in der vergangenen Woche sein Geburtstag gewesen und somit eine mehr als denkwürdige Zeit für sie selbst, für ihre Kinder und auch für Albert zu Ende gegangen. Genau genommen war Ragnhild seit letzter Woche sogar eine wohlhabende Frau, denn nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Albert sein väterliches Erbe ausgezahlt bekam. Doch dies war für sie nicht der hauptsächliche Grund, um sich zu freuen. Wie so oft in letzter Zeit wagte Ragnhild kurz zu träumen. Sehr bald schon hatte die Unterdrückung von Luburgis und Conrad für alle Zeit ein Ende, und sie würden in ihr eigenes Haus ziehen. Albert konnte endlich als Kaufmann arbeiten und sie selbst so viel ungestörte Zeit mit ihren Kindern verbringen, wie sie nur wollte. Bei diesem Gedanken legte sich unweigerlich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht. Wenn es doch nur schon so weit wäre.
    Je näher sie der Petrikirche kamen, umso mehr Menschen gesellten sich zu ihnen in den Strom der Kirchgänger. Wieder einmal dachte Ragnhild, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass die Bewohner der Reichenstraße, und somit auch sie selbst, noch zum Kirchspiel der Petrikirche gehörten. Anders als in den Kirchen St. Nikolai und St. Katharinen, die durch die umliegenden Kaufmannsviertel fast ausschließlich von Kaufleuten besucht wurden, versammelten sich in der

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