Die Frau des Seiltaenzers
zu Ende bist, ist deine Schrift verschwunden. Aber mit Hilfe gewisser Taschenspielertricks kann sie wieder sichtbar gemacht werden. Oder: Ein Autor legt sein Wissen in verschlüsselten Wörtern oder Buchstaben nieder. So gilt zum Beispiel aus dem ersten Wort eines scheinbar sinnlosen Textes nur der erste Buchstabe, aus dem zweiten Wort der zweite Buchstabe, aus dem dritten Wort der dritte, bis sich daraus ein Wort bilden lässt. Dann beginnt es für das nächste Wort wieder von vorne. Ein mühsames Unterfangen, aber aufgrund seiner Variationsmöglichkeiten praktisch nicht zu entschlüsseln.«
»Und wie lautete die andere Geheimwissenschaft?«
»Spagyrik oder auch Spagyrische Kunst, aus zwei griechischen Wörtern gebildet: trennen und verbinden.«
»Und was wird dabei getrennt oder verbunden?«
Schweinehirt schmunzelte wissend und nicht ohne Stolz. Bei seiner Arbeit in der Bibliothek hatte er sich in kurzer Zeit ein beachtliches Wissen angeeignet, indem er die Bücher, die verlangt wurden, nach ihrer Rückgabe selbst studierte. In den Regalen standen genügend Bücher, die kein Interesse fanden, aber, dachte er, Bücher, die sich einer gewissen Nachfrage erfreuten, seien in jedem Fall lesenswert – auch wenn sie Steganographie oder Spagyrik zum Inhalt hatten.
»Spagyrik«, begann er, »ist eine alchimistische Lehre zum Mischen und Trennen gewisser Elemente, um geheimnisvolle Elixiereherzustellen, die in einem bestimmten Mischungsverhältnis Wundersames bewirken. Eingeweihte nennen ein solches wunderwirkendes Elixier Arcanum, was so viel bedeutet wie etwas Geheimes. Wenige Tropfen eines solchen Elixiers genügen angeblich …«
»Und Ihr glaubt daran?«, unterbrach Magdalena den Bibliothekar. Dabei tat sie, als machte sie sich über seine Aussage lustig. In Wahrheit versetzte sie Schweinehirt in höchste Aufregung. In ihrem Kopf fügte sich plötzlich eines zum anderen: die Formel der Neun Unsichtbaren, die Doktor Faust geläufig war, und die geheimnisvolle Wirkung des Elixiers. Was suchte der Schwarzkünstler in der Bibliothek der Zisterzienser von Eberbach? Magdalena fand nur eine Erklärung: Er suchte nach den neun ›Büchern der Weisheit‹, den Büchern, die ihm, wenn sie sich recht erinnerte, tausend Golddukaten wert waren.
»Um Eure Frage zu beantworten«, bemerkte Wendelin Schweinehirt, »es wäre töricht, nicht an die Wirkung geheimer Elixiere zu glauben. Tagtäglich geschehen Wunder auf dieser Erde, die im Gegensatz zu den bekannten Gesetzen der Natur stehen. Selbst unser Herr Jesus muss sich ihrer bedient haben, als er über das Wasser ging oder in den Himmel auffuhr – wenn es denn stimmt, was die Bibel verkündet.«
Magdalena hörte Schweinehirt nur mit halbem Ohr zu. Weit weg mit ihren Gedanken, stellte sie unvermittelt die Frage: »Sagt, Schweinehirt, kennt Ihr jedes der Bücher, die hier in der Klosterbibliothek aufbewahrt werden?«
Schweinehirt lachte und schüttelte den Kopf: »Obwohl die Bibliothek nicht gerade zu den großen und bedeutsamen im Lande zählt, würde ein Menschenleben nicht reichen, alle zu lesen.«
»Das meine ich nicht«, entgegnete Magdalena und dämpfte ihre vor Aufregung laut gewordene Stimme schnell wieder. »Ich frage, wisst Ihr, ob dieses oder jenes Buch in Euren Regalen eingestellt ist.«
»Selbst das könnt Ihr von einem hergelaufenen Briefmaler nicht verlangen! Vorsichtig geschätzt, haben wir es hier mit zehnmaltausend Codices oder Folianten zu tun. Mein Gehirn ist zu klein, um so viele Titel im Kopf zu behalten. Aber das ist ja der Grund, warum Abt Nikolaus mich mit der Archivierung der Bibliothek beauftragt hat. Und wie Ihr seht, bin ich bereits bis zum Buchstaben D des Alphabets vorgedrungen. Von E bis Z bin ich bei der Suche nach einem Buch noch auf meine Nase angewiesen. Im Laufe der Jahre haben sich thematische Nester gebildet – wenn Ihr versteht, was ich meine –, also Bücher zum selben Thema auf einem Haufen oder in einem Fach.«
Magdalena war noch immer erregt, flüsterte jedoch: »Dann habt Ihr die Alchimie bereits archiviert!«
»Natürlich. Über Alchimie sind neben der Theologie die meisten Bücher vorhanden. – Ihr seid an Alchimie interessiert?«
»Seit mir im Kloster Seligenpforten ein neunbändiges Werk mit dem Titel ›Die Bücher der Weisheit‹, von edler Hand auf Pergament geschrieben, in die Hände fiel«, log Magdalena und sah Schweinehirt erwartungsvoll an.
Der Bibliothekar kniff die Augen zusammen, als hätte Magdalena etwas
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