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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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sie am Abend zuvor schon gesehen. Bei Tageslicht und ohne ihre phantasievollen Gewänder wirkten jedoch alle ganz anders.
    Zur Truppe gehörten auch eine Wahrsagerin, ein rassiges Frauenzimmer von verhaltener Schönheit, ein fahrender Sänger und eine Schlangenfrau, die ihren schlanken Körper verbiegen konnte wie einen grünen Weidenzweig. Vor allem aber eine leibhaftige Indianerin mit schwarzem Haar und roter Haut, welche sie allabendlich zur Vorstellung mit einem Gemisch aus Roten-Rüben-Saft und Ochsenblut einfärbte. Auf diese Weise gelang es ihr, sich in Rudolfos Menagerie als Beutestück des Christoph Kolumbus zu präsentieren, welches dieser von seiner dritten Seereise aus der Neuen Welt mitgebracht habe. Kaum jemand unter den zahlenden Gaffern ahnte, dass sie eigentlich Hiltrud hieß und aus dem Erzgebirge stammte. Nicht zu vergessen vier kräftige Fuhrknechte, raue Burschen ohne Benehmen – aber das verlangte auch niemand.
    Sie alle begegneten den Neuen nicht gerade unfreundlich, aber doch mit spürbarer Reserviertheit, was daher rührte, dass wohl alleMagdalena und Melchior für ein Paar hielten. Am deutlichsten tat Megistos, so der Name des buckeligen Quacksalbers, seinen Unmut gegen die beiden kund, indem er sich vor versammelter Mannschaft bei Rudolfo heuchlerisch erkundigte, ob jene wohl einen eigenen Gauklerwagen beanspruchten. Als Rudolfo beteuerte, Magdalena und Melchior seien keineswegs Mann und Frau, nicht einmal ein Paar, und nur der Zufall habe sie zusammengeführt, herrschte allgemeine Zuversicht – jedenfalls schien es so.
    Gegen Mittag waren die Wagen beladen, Pferde und Ochsen angespannt. Ein Zug aus bunt bemalten Gauklerwagen und Ochsenkarren mit ihren Gerätschaften setzte sich in Richtung des Stadttores in Bewegung. Magdalena und Melchior hatten in einem Planwagen, gleich hinter dem vorausfahrenden Gefährt des Großen Rudolfo, Platz gefunden. Dass eine verschlissene Stoffplane das Fahrzeug bogenförmig überspannte, ursprünglich dafür gedacht, vor Sonne und Regen zu schützen, erwies sich als besonderer Vorteil. Denn dieselben Gaffer, die den Gauklern am Vorabend begeistert Beifall gezollt hatten, bewarfen sie jetzt mit Pferdeäpfeln und stinkendem Ziegendreck und verhöhnten sie mit Rufen wie: »Gebt unsere Wäsche zurück, die ihr von den Leinen gestohlen habt!« Oder: »Gebt unseren Töchtern die Unschuld wieder!«
    »Das muss dich nicht weiter stören«, bemerkte der Jongleur, der sich als Benjamino vorgestellt und neben Magdalena Platz genommen hatte. »Das ist nun einmal das Los von uns Gauklern: gestern bejubelt, heute verachtet.«
    Magdalena lächelte gequält. Der Klang seiner Sprache ließ tatsächlich den Schluss zu, dass Benjamino von italienischer Herkunft war.
    »Wie lange machst du das schon?«, fragte sie neugierig, aber auch, um irgendwie ins Gespräch zu kommen.
    Der Jongleur faltete die Hände wie zum Gebet und reckte sie theatralisch gen Himmel: »Maledetto«, rief er und verdrehte die Augen, »seit ich laufen kann! Und das ist ziemlich lange her. Bis zumeinem zwölften Lebensjahr musste ich meinen Eltern zur Hand gehen, die als Jongleurspaar über die Jahrmärkte zogen. Dann wurden die Zeiten schlecht, und sie verkauften mich an den Großen Rudolfo. Seither ziehe ich mit ihm durch die Lande. Ich kann mich nicht beklagen.«
    Benjamino redete nicht gerade so, als haderte er mit seinem Schicksal.
    »Und du?«, fragte er, ohne Magdalena anzusehen, während der Planwagen über einen steinigen Weg holperte. »Jadwiga, die polnische Schlangenfrau, glaubt zu wissen, dass du aus einem Kloster davongelaufen bist.«
    »Woher will sie das wissen, die polnische Schlangenfrau?«, entgegnete Magdalena gereizt und rückte mit säuerlicher Miene ihre Haube zurecht.
    »Jadwiga meinte, du hättest kaum Haare auf dem Kopf, so wie es bei Nonnen üblich ist; und deshalb trügest du auch immer diese Haube.«
    Magdalena warf Melchior zu ihrer Rechten einen verschämten Blick zu. Sie litt unter den kurzen Stoppeln auf ihrem Kopf mehr als unter dem Hunger und Durst, welche sie seit ihrer Flucht aus Seligenpforten begleitet hatten.
    »Du kannst ruhig die Wahrheit sagen«, knurrte Melchior, der das Gespräch scheinbar teilnahmslos verfolgt hatte. »Schließlich hast du nichts Unrechtes getan.«
    Da fiel ihm Benjamino ins Wort: »Verzeih, ich wollte nicht aufdringlich sein. Selbst wenn Jadwiga recht hätte – was wäre schon dabei? Zu Tausenden verlassen Nonnen und Mönche in diesen Tagen

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