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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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ich habe dir schon zu viel erzählt. Sollte es jemals bekannt werden, dass du von den Neun Unsichtbaren erfahren hast, so wäre das dein sicheres Ende. Denn niemand außer den Neun darf sich die Schätze der Weisheit zu eigen machen. Verstehst du mich?«
    »Ich verstehe dich sehr wohl, Rudolfo. Aber wie sollte ich das alles vergessen. Nichts drückt den Menschen mehr als einGeheimnis. Nein, vergessen kann ich deine Worte nicht, aber schweigen kann ich wie ein Grab. Das habe ich im Kloster Seligenpforten gelernt. Doch was mich noch interessieren würde: Welchen Grund hat die Geheimnistuerei um die bedeutsamsten Erkenntnisse der Menschheit? Hat die Menschheit nicht vielmehr ein Recht darauf zu erfahren, was ihre Ahnen vor Jahrhunderten erforscht und erfunden haben?«
    Rudolfo verstieg sich zu einem zuckersüßen Lächeln und erwiderte: »Du bist ein schlaues Kind, Magdalena, und auf den ersten Blick hast du vollkommen recht. Aber wenn du den Inhalt der Schätze der Weisheit kennen würdest, wärst du gewiss anderer Ansicht. Nicht jede Erkenntnis, nicht jede Entdeckung, nicht jede Erfindung gedeiht zum Wohle der Menschheit. Denk nur an die Erfindung des Domherrn Berthold Schwarz, welcher Schwefel, Salpeter und Holzkohle zu dem nach ihm benannten Pulver zusammenmischte. Bis vor zweihundert Jahren kämpften Feinde mit Lanze und Schwert, mit Pfeil und Bogen, Mann gegen Mann. Und heute? Mit Hilfe des Schwarzpulvers feuern Landsknechte aus dem Hinterhalt in feindliche Heere und töten ihre Gegner reihenweise. Kanonenkugeln tragen Leid und Tod wie rasende Vögel über Stadtmauern hinweg. Früher zählte man die Opfer nach Hunderten, später nach Tausenden, heute sogar nach Zehntausenden. Bald werden es Hunderttausende sein, die das Schwarzpulver zur Strecke bringt.«
    Magdalena nickte betroffen. »Da wäre es in der Tat besser gewesen, die Erfindung des Berthold Schwarz zu verheimlichen. – Erlaubt mir die Frage: Warum ist das eigentlich nicht geschehen?«
    »Das will ich dir sagen. Am östlichen Ende unseres Planeten, wo der Stille Ozean die Landmasse begrenzt, haben Chinesen, ein Volk von gelber Haut und mit Füßen, so unförmig wie ein Pferdehuf, schon vor Berthold Schwarz das Schießpulver erfunden. Es hätte nur weniger Jahrzehnte bedurft, und die Kunde vom Schießpulver wäre eh bis in unsere Breiten vorgestoßen.«
    »Da magst du recht haben.« Magdalena, die immer noch neben Rudolfo kniete, dachte lange nach. Schließlich sagte sie: »Und du hast alle Schätze der Weisheit, die in den neun Büchern verzeichnet sind, im Kopf?«
    »Alle?«, rief Rudolfo entrüstet. »Wo denkst du hin! Es sind Hunderte, ja sogar Tausende, die in allen Einzelheiten beschrieben werden – vor allem aus den verschiedensten Wissensgebieten. Da sind die Geheimnisse des Lichts aufgeführt: wie Licht in Flüssigkeit und Flüssigkeit in Licht verwandelt werden kann. Und wo das brennende Wasser des Hephaistos, welches Fuhrwerke ohne Pferde zum Laufen bringt, aus der Erde tritt, ist ebenso beschrieben wie die sprechenden Teller, welche deine Stimme zu konservieren in der Lage sind, sodass sie meilenweit übers Land getragen und andernorts zu Gehör gebracht werden kann. Verzeichnet ist die Lage des Grabes samt dem Leichnam des Herrn Jesus, von dem der Papst und die römischen Pfaffen behaupten, er sei mit Leib und Seele gen Himmel gefahren. Aber auch die Wiedergeburt der fliegenden Drachen ist darin niedergeschrieben. Oder die Transmutation des Menschen in Wesen mit Flügeln, die es ermöglichen, wie ein Vogel über die Alpen zu fliegen. Oder die Berechnung deines Todestages mit Hilfe des Kalenders der Sterne. Ebenso die Herstellung von weißem Gold, das der Menschheit noch größeren Luxus bescheren könnte als das Gold der Indios. Oder die Nachricht, welche uns Extraterrestrische hinterlassen haben; denn wir sind nicht die Einzigen unter dem Firmament – wie sie uns wissen lassen –, nur die Unbedeutendsten. Und nicht zu vergessen: die Rezepturen der unzähligen Elixiere. Eines zur Verhinderung der menschlichen Fortpflanzung, eines zur Erlangung der Polyglossie, des Redens in verschiedenen Sprachen; eines gegen Pest, Cholera und Fallsucht und – nicht zu vergessen – eines zur Aufhebung der Schwerkraft im Bewusstsein jedes einzelnen Menschen. Nur wenn sich der Mensch der Schwerkraft bewusst ist, fällt er vom Seil!«
    Bei den letzten Worten glänzten seine Augen wie glitzernde Kiesel im Bach. Auf einmal hielt er inne, als fände er aus

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