Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
Vom Netzwerk:
einem endlosenTraum zurück in die Wirklichkeit. »Ich glaube, ich habe dir mehr gesagt, als ich eigentlich darf«, stammelte er kaum hörbar. »Das hätte ich nicht tun sollen. Aber kannst du dir vorstellen, die Schätze der Weisheit wären allesamt oder auch nur teilweise den Mächtigen dieser Welt bekannt? Das hätte den Untergang des Menschengeschlechts zur Folge. Einer versuchte den anderen zu übertrumpfen, einer versuchte dem anderen sein Geheimnis zu entreißen, einer versuchte reicher zu werden als der andere, einer würde dem anderen seinen Willen aufzwingen, seine Götter und seine Religion. Das wäre das Ende.«
    Für Magdalena war das alles zu viel. Obwohl sie während der Zeit als Novizin reges Interesse an den Wissenschaften gezeigt und die Schriften des Albertus Magnus und seines gelehrigen Schülers Thomas von Aquino verschlungen hatte, begriff sie wenig von Rudolfos Vokabularium. Das meiste klang so phantastisch und unerklärlich, dass in ihr – nicht zum ersten Mal – der Gedanke aufkam, nur der Teufel könne eine solche Rede im Munde führen.
    Das Gehörte lastete wie ein Felsblock auf ihr. Sie rang nach Luft, glaubte in der Enge des Gauklerwagens zu ersticken. Ihre Gefühle, eben noch geprägt von zärtlicher Hingabe, schlugen um in Verzweiflung. Von düsteren Gedanken gequält, blickte sie zur Türe. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, erhob sie sich und schickte sich an, den Gauklerwagen zu verlassen.
    »Jetzt bist du eine von den Unsichtbaren«, rief ihr Rudolfo mahnend hinterher, »gleichsam die Zehnte – also eine zu viel.«

6. KAPITEL
    U nerwartet machte der Sommer seinem Namen doch noch alle Ehre. Zu viel der Ehre gar, denn seit Tagen brannte die Sonne unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel. Die Flussauen färbten sich erst gelb, dann braun, so schnell, dass man zusehen konnte. Seit Tagen saßen die Gaukler fest und wussten nicht, wie es weitergehen sollte.
    Gegen Mittag kam der Marktschreier aus Miltenberg zurück, wo er beim Rat der Stadt die Ankunft der Gaukler ankündigen und Proviant für Mensch und Tiere kaufen sollte. Schon von Weitem konnte man erkennen, dass seine Mission erfolglos geblieben war, denn der Marktschreier, als forscher Reiter bekannt, trottete lustlos auf seinem Gaul einher. Missmutig stieg er, im Lager angelangt, vom Pferd und schüttelte, als Rudolfo auf ihn zutrat, den Kopf.
    »Wir sind bei den Miltenbergern wohl nicht gerne gesehen?«, meinte Rudolfo fragend.
    »Schlimmer noch«, erwiderte der Marktschreier, der sonst nicht ungeschickt in den Verhandlungen mit den Stadtoberen oder Pfaffen war. »Sie haben gedroht, die Hunde auf uns zu hetzen, wenn wir es wagten, auch nur einen Fuß in ihre Stadt zu setzen. Ich kann froh sein, dass sie mir mein Pferd und das Geld gelassen haben, welches ich bei mir trug. Der Bürgermeister, ein Fettwanst, dem seine Leibesfülle problemlos ein mehrwöchiges Überleben ohne jede Nahrungsaufnahme sicherte, meinte, sie hätten selbst nichts zu beißen.«
    »Hast du den Miltenbergern nicht gesagt, dass der Große Rudolfo vor ihren Toren steht, dem das Volk überall zujubelt, selbst in großen Städten wie Köln und Nürnberg, wo an Gauklern kein Mangel herrscht?«
    Der Marktschreier machte eine abfällige Handbewegung. »Ich habe geredet wie ein Ablassprediger von der Kanzel.«
    »Aber offensichtlich sind die Ablassprediger erfolgreicher als du!«
    Da schoss dem Marktschreier die Zornesröte ins Gesicht, und wütend rief er: »Dann schicke das nächste Mal deine Nonne zu den Stadtoberen. Sicher hat sie mehr Erfolg als ich! Immerhin ist es ihr gelungen, dich um den Finger zu wickeln.«
    Die Worte des Marktschreiers trafen den Seiltänzer an einer empfindlichen Stelle. Seit Tagen wurde unter den Gauklern getuschelt, dass Rudolfo und Magdalena etwas miteinander hätten, was umso größeres Erstaunen hervorrief, als der Seiltänzer seit geraumer Zeit und im Gegensatz zu früher alle Annäherungsversuche des weiblichen Geschlechts erfolgreich abwehrte.
    Inzwischen hatte die Auseinandersetzung Rudolfos mit dem Marktschreier auch die übrigen Gaukler angelockt, die einen Kreis um die beiden bildeten, in Erwartung eines fesselnden Schauspiels.
    Rudolfo neigte eher dazu, die Anwürfe des Marktschreiers zu vergessen, so zu tun, als habe er seine abfälligen Bemerkungen gar nicht gehört. Doch dann sah er aller Augen auf sich gerichtet, fragend, wie er wohl reagieren würde, er, der Große Rudolfo, und so trat er vor den Marktschreier hin und

Weitere Kostenlose Bücher