Die Frau des Zeitreisenden
Hinausgehen. »Wiedersehen, Ed«, entgegnet der Friseur. Dann schenkt er mir seine Aufmerksamkeit. »Wie soll es denn werden?« Ich hüpfe in den Stuhl, und er pumpt mich ein paar Stufen höher, dreht mich zum Spiegel um. Ich werfe einen langen letzten Blick auf meine Haare. Dann halte ich Daumen und Zeigefinger ungefähr zweieinhalb Zentimeter auseinander. »Schneiden Sie alles ab.« Er nickt beifällig und legt mir einen Plastikumhang um den Hals. Bald schnippt seine Schere mit kleinen Metall-auf-Metallgeräuschen um meinen Kopf, und meine Haare fallen zu Boden. Als er fertig ist, bürstet er mich ab und entfernt den Umhang. Und voilà: Ich bin mein künftiges Ich geworden.
PÜNKTLICH ZUR KIRCHE KOMMEN
Samstag, 23. Oktober 1993 (Henry ist 30, Clare 22)
(6 Uhr)
Henry: Um sechs Uhr früh wache ich auf, es regnet. Ich liege in einem hübschen kleinen grünen Mansardenzimmer eines gemütlichen kleinen Bed and Breakfast namens Blake’s, direkt am Südstrand von South Haven. Clares Eltern haben es ausgesucht. Mein Dad schläft unten in einem ebenso heimeligen rosa Zimmer, neben Mrs Kim, die einen schönen gelben Raum bewohnt. Grandpa und Grams logieren in dem überkuscheligen blauen Elternschlafzimmer. Unter Bettwäsche von Laura Ashley liege ich auf der extraweichen Matratze und lausche dem Wind, der sich gegen das Haus wirft. Es gießt in Strömen. Ich frage mich, ob ich bei diesem Monsun laufen kann. Das Wasser rauscht durch die Rinnen und trommelt aufs Dach, das ungefähr einen halben Meter über meinem Gesicht beginnt. Mein Zimmer gleicht eher einer Dachkammer. Es enthält einen zierlichen kleinen Schreibtisch, für den Fall, dass ich an meinem Hochzeitstag irgendwelche vornehmen Schreiben tätigen muss. Auf der Kommode stehen eine Porzellanschüssel mit passendem Wasserkrug; wollte ich sie tatsächlich benutzen, müsste ich wahrscheinlich erst das Eis auf dem Wasser brechen, denn hier ist es ziemlich kalt. Ich fühle mich wie ein rosa Wurm im Herzen dieses grünen Zimmers, als hätte ich mich hier hereingefressen und sollte nun daran arbeiten, ein Schmetterling oder etwas Ähnliches zu werden. Ich bin noch nicht richtig wach, hier, in diesem Moment. Jemand hustet. Ich höre mein Herz schlagen und den hohen Ton, mit dem mein Nervensystem seine Arbeit verrichtet. Oh, Gott, lass den heutigen Tag normal verlaufen. Lass mich normal verwirrt, normal nervös sein, bring mich pünktlich zur Kirche. Lass mich niemanden verschrecken, besonders nicht mich selbst. Lass mich unseren Hochzeitstag durchstehen so gut ich kann, ohne Spezialeffekte. Erlöse Clare von unerfreulichen Szenen. Amen.
(7 Uhr)
Clare: Ich erwache in meinem Bett, dem Bett meiner Kindheit. Noch auf der Oberfläche des Wachwerdens schwebend, taste ich mich suchend durch die Zeit: Ist Weihnachten, Thanksgiving? Sitze ich wieder in der dritten Klasse? Bin ich krank? Wieso regnet es? Der Himmel hinter den gelben Vorhängen wirkt wie tot, der Wind reißt das gelbe Laub von der großen Ulme. Die ganze Nacht habe ich geträumt. Jetzt verschmelzen die Träume. Einmal bin ich im Meer geschwommen, ich war eine Nixe. Eine noch sehr unerfahrene Nixe, und eine der anderen Nixen wollte mir alles beibringen: Sie gab mir Nixenunterricht. Ich hatte Angst, unter Wasser zu atmen. Das Wasser drang in meine Lunge, und ich kam nicht dahinter, wie es funktionieren sollte, es fühlte sich schrecklich an, ich musste dauernd an die Oberfläche, um zu atmen, und die andere Nixe sagte immer: Nein, Clare, das geht so... bis ich schließlich sah, dass sie Kiemen im Hals hatte, genau wie ich, danach ging es besser. Schwimmen war wie Fliegen, alle Fische waren Vögel... An der Meeresoberfläche war ein Schiff, und wir schwammen nach oben, um das Schiff zu sehen. Es war nur ein kleines Segelschiff, meine Mutter war an Bord, ganz allein. Ich schwamm zu ihr, und mein Anblick überraschte sie, sie sagte Aber Clare, ich dachte, du willst heute heiraten, und plötzlich wurde mir klar, wie das in Träumen so geht, dass ich Henry nicht heiraten kann, wenn ich eine Nixe bin. Ich begann zu weinen, und dann wachte ich auf, es war mitten in der Nacht. Eine Weile lag ich im Dunkeln und beschloss, eine normale Frau zu werden, wie die kleine Meerjungfrau, allerdings ohne den ganzen Unsinn mit grässlichen Schmerzen in den Füßen oder einer herausgeschnittenen Zunge. Hans Christian Andersen muss ein sehr sonderbarer und trauriger Mensch gewesen sein. Dann schlief ich wieder ein, und nun liege
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