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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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die Wette für ungefährlich. Ich schlage das Buch bei Flamingo auf. Henry lacht.
    »Hab ich Recht?«
    »Ja!«
    Es ist nicht schwer, allwissend zu sein, wenn man alles schon einmal erlebt hat. »Also, nimm deinen Keks. Und ich bekomme einen, weil ich Recht hatte. Aber wir müssen sie aufheben, bis wir uns das Buch fertig angesehen haben, wir wollen doch nicht, dass Krümel auf die Berghüttensänger kommen, oder?«
    »Nein!« Er legt den Keks auf die Stuhllehne, und wir fangen noch mal von vorn an, blättern uns langsam durch die Vögel, die viel lebendiger wirken als die echten in den Glasröhrchen am anderen Ende des Gangs.
    »Das ist ein Kanadareiher. Der ist richtig groß, größer als ein Flamingo. Hast du schon mal einen Kolibri gesehen?«
    »Heute hab ich ein paar gesehen!«
    »Hier im Museum?«
    »Ja.«
    »Was meinst du wohl, wenn du draußen einen siehst! Sie sind wie winzige Helikopter, ihre Flügel flattern so schnell, dass man sie nur verschwommen sieht.« Das Umblättern jeder Seite ist, als würde man ein Bett machen: Ein enorm großes Blatt Papier, das sich hebt und senkt. Henry steht aufmerksam da, wartet immer auf das neue Wunder, stößt bei jedem Kanadischen Kranich, bei jeder Nordamerikanischen Trauerente, jedem Riesenalk und Schopfspecht kleine Freudenschreie aus. Bei der letzten Tafel mit der Schneeammer beugt er sich vor und berührt die Seite, streichelt zärtlich über die Gravierung. Ich sehe ihn an, dann das Buch, erinnere mich an dieses Buch, an diesen Augenblick, es war das erste Buch, das ich geliebt habe, und ich weiß noch, wie ich mich am liebsten darin verkrochen und geschlafen hätte.
    »Müde? Wollen wir gehen?«
    »Ja.«
    Ich klappe die Birds of America zu, bringe sie in ihr Glashaus zurück, schlage sie bei Flamingo auf, schließe den Kasten und sperre ihn ab. Henry hüpft vom Stuhl und isst seinen Keks. Ich bringe den Filz zum Tisch zurück, schiebe den Stuhl an seinen Platz. Dann macht Henry das Licht aus, und wir verlassen die Bibliothek.
    Im Gehen plaudern wir friedlich über fliegende und kriechende Tiere, dabei essen wir unsere Kekse. Henry erzählt mir von Mom und Dad, von Mrs Kim, die ihm beibringt, wie man Lasagne macht, und von Brenda, die ich ganz vergessen hatte, meine beste Freundin, als ich klein war, bis ihre Eltern nach Tampa in Florida zogen, heute in etwa drei Monaten. Wir stehen vor Bushman, dem legendären Berggorilla mit dem Silberrücken, der in einem Gang im Erdgeschoss auf einem kleinen Marmorsockel thront und in seiner ausgestopften Pracht finster auf uns herabblickt, als Henry aufschreit, mit ausgestreckten Armen auf mich zustolpert, und ich nach ihm greifen will, aber schon ist er fort. Das warme T-Shirt in meinen Händen ist leer. Seufzend gehe ich die Treppe hoch, um mir die Mumien noch eine Weile allein anzusehen. Mein junges Ich wird nun zu Hause sein und ins Bett gehen. Ich erinnere mich, erinnere mich genau. Am nächsten Morgen erwachte ich, und alles war ein wunderschöner Traum. Mom lachte und sagte, durch die Zeit zu reisen bringe offenbar großen Spaß, und sie würde es auch gern einmal versuchen.
    Das war das erste Mal.

ERSTE BEGEGNUNG, ZWEI
Freitag, 23. September 2977 (Henry ist 36, Clare 6)
     
    Henry: Ich bin auf der Wiese und warte. Ich warte nackt etwas abseits der Lichtung, weil die Kleidung nicht da ist, die Clare in einer Schachtel unter einem Stein für mich aufbewahrt; auch die Schachtel fehlt, darum bin ich froh, dass es ein schöner Nachmittag ist, vielleicht Anfang September, in einem unbekannten Jahr. Nachdenklich kauere ich im hohen Gras. Die nicht vorhandene Kleiderschachtel bedeutet, dass ich in einer Zeit gekommen bin, bevor Clare und ich uns begegnet sind. Vielleicht ist Clare noch gar nicht geboren. Das passiert mir nicht zum ersten Mal, es ist schrecklich. Clare fehlt mir, und da ich es nicht wage, mich nackt in der Umgebung ihrer Eltern zu zeigen, verstecke ich mich die ganze Zeit auf der Wiese. Sehnsüchtig denke ich an die Apfelbäume am westlichen Wiesenrand. In dieser Jahreszeit müssten sie kleine, säuerliche Äpfel tragen, teilweise vom Wild angeknabbert, aber essbar. Ich höre das Fliegengitter knallen und spähe übers Gras. Ein Mädchen rennt hastig den Pfad herunter, schlägt sich durch das wogende Gras, und mein Herz macht einen Satz: Clare platzt in die Lichtung.
    Sie ist sehr klein, völlig selbstvergessen und allein. Sie trägt noch ihre Schuluniform, eine weiße Bluse unter einer jagdgrünen Jacke und

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