Die Frau des Zeitreisenden
Kniestrümpfe mit Mokassins, außerdem hat sie eine Einkaufstüte von Marshall Field’s und ein Badetuch bei sich. Clare breitet das Handtuch auf dem Boden aus und kippt den Inhalt der Tüte darauf: alle erdenklichen Arten von Schreibutensilien. Alte Kugelschreiber, kleine Bleistiftstummel aus der Bibliothek, Wachsmalstifte, duftende Textmarker und ein Füllfederhalter. Auch einen Stapel Briefpapier aus dem Büro ihres Vaters hat sie dabei. Sie ordnet die Sachen, schüttelt den Papierstapel gerade und probiert dann jeden Stift aus, indem sie leise vor sich hin summend sorgfältige Linien und Schleifen zieht. Nach einigem Zuhören erkenne ich die Titelmelodie der Dick Van Dyke Show.
Noch zögere ich. Clare ist zufrieden, konzentriert. Sie ist ungefähr sechs, wenn September ist, müsste sie gerade in die erste Klasse gekommen sein. Sie scheint mich nicht zu erwarten, ich bin ein Fremder, und bestimmt lernt man als Erstes in der ersten Klasse, sich nicht auf Fremde einzulassen, die an deinem liebsten Versteck auftauchen, deinen Namen kennen und dich bitten, nichts deinen Eltern zu erzählen. Ich überlege, ob heute der Tag ist, an dem wir uns zum ersten Mal begegnen müssten. Vielleicht sollte ich mich ganz ruhig verhalten, dann wird Clare entweder gehen und ich kann mir ein paar Äpfel holen und etwas zum Anziehen klauen oder aber ich werde in meine normale Zeit zurückkehren.
Ich schrecke aus meinen Träumen auf, als Clare mich unverblümt anstarrt. Zu spät wird mir klar, dass ich die Melodie mitgesummt habe.
»Wer ist da?«, faucht Clare. Sie sieht aus wie eine stinkwütende Gans, nur Hals und Beine. Ich überlege blitzschnell.
»Sei gegrüßt, Erdling«, intoniere ich freundlich.
»Mark, du Nimrod!« Clare sieht sich nach einem Wurfgegenstand um, entscheidet sich für ihre Schuhe mit den schweren, scharfen Absätzen. Sie streift sie ab und wirft. Ich glaube nicht, dass sie mich gut sehen kann, aber sie hat Schwein, und ein Schuh trifft mich am Mund. Meine Lippen beginnen zu bluten.
»Bitte lass das.« Meine Stimme klingt gedämpft, weil ich nichts zum Blutstillen habe und meine Hand auf den Mund presse. Mein Kiefer schmerzt.
»Wer ist da?« Clare ist jetzt verängstigt, genau wie ich.
»Henry. Ich bin’s, Clare. Henry. Ich will dir nichts tun und wäre dir dankbar, wenn du nichts mehr nach mir wirfst.«
»Gib mir meine Schuhe wieder. Ich kenn dich nicht. Warum versteckst du dich?« Clare schaut mich böse an.
Ich werfe ihre Schuhe in die Lichtung zurück. Clare hebt sie auf, hält sie wie gezückte Pistolen. »Ich verstecke mich, weil ich meine Kleider verloren habe und mich schäme. Ich komme von weit her, bin hungrig, kenne niemanden, und jetzt blute ich auch noch.«
»Woher kommst du? Und warum weißt du meinen Namen?«
Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. »Ich komme aus der Zukunft. Ich bin ein Zeitreisender. In der Zukunft sind wir Freunde.«
»Zeitreisende gibt es nur in Filmen.«
»Genau das sollt ihr glauben.«
»Warum?«
»Wenn jeder durch die Zeit reisen würde, gäbe es ein großes Gedränge. Zum Beispiel letztes Jahr, als du an Weihnachten deine Grandma Abshire besuchen wolltest und durch den Flughafen O’Hare gehen musstest, war es da nicht sehr, sehr voll? Wir Zeitreisende wollen uns nicht selbst alles vermasseln, deshalb halten wir uns zurück.«
Clare lässt sich das eine Weile durch den Kopf gehen. »Komm raus.«
»Leih mir dein Badetuch.« Sie hebt es auf, so dass sämtliche Stifte und Papiere herunterfliegen, wirft es mir zu, und ich fange es auf, drehe mich um und schlinge es mir um die Hüften. Es ist leuchtend rosa und orange, mit einem schrillen geometrischen Muster. Genau die Sorte Kleidungsstück, die man gern trägt, wenn man seiner zukünftigen Frau zum ersten Mal begegnet. Ich drehe mich um, gehe auf die Lichtung und lasse mich so würdevoll wie möglich auf dem Stein nieder. Clare steht so weit von mir entfernt, dass sie gerade noch auf der Lichtung ist. Sie umklammert immer noch ihre Schuhe.
»Du blutest.«
»Na ja, klar. Du hast einen Schuh nach mir geworfen.«
»Oh.«
Schweigen. Ich versuche, einen harmlosen und freundlichen Eindruck zu erwecken. Freundlichkeit spielt eine tragende Rolle in Clares Kindheit, denn sie kennt nicht viele Leute, die freundlich sind.
»Du machst dich über mich lustig.«
»Würde ich nie tun. Wie kommst du darauf?«
Clare ist überaus hartnäckig. »Niemand reist durch die Zeit. Du lügst.«
»Der Weihnachtsmann reist
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