Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
Vom Netzwerk:
anknipse, liegen überall auf dem Boden kürbisgroße Steine, ganze und halbe, außen zerklüftet, innen von metallischen Adern durchzogen. »Oh, sieh dir das an, Henry. Meteoriten.«
    »Was sind Meteriten?«
    »Steine, die aus dem Weltraum fallen.« Er sieht mich an, als wäre ich aus dem Weltraum. »Wollen wir es an einer anderen Tür probieren?« Er nickt. Ich schließe den Meteoritenraum und versuche es an der gegenüberliegenden Tür. Ein Raum voller Vögel. Vögel in simuliertem Flug, Vögel, die für immer auf Ästen sitzen, Vogelköpfe, Vogelbälge. Ich öffne eine der Hunderte von Schubladen; sie enthält mehrere Glasröhren mit jeweils einem winzigen schwarz-goldenen Vogel, dessen Name auf einem um den Fuß gewickelten Schildchen steht. Henrys Augen werden riesengroß. »Willst du einen anfassen?«
    »Mhm.«
    Ich entferne den Wattepfropfen aus der Glasöffnung und schüttle einen Goldfink auf meine Hand. Er bleibt röhrenförmig. Henry streichelt liebevoll den kleinen Kopf. »Schläft er?«
    »Könnte man sagen.« Er misstraut meiner doppeldeutigen Antwort und wirft mir einen strengen Blick zu. Vorsichtig gebe ich den Goldfink wieder ins Glas, stecke den Wattepfropfen hinein, lege das Röhrchen zurück und schließe die Schublade. Ich bin schrecklich müde. Allein das Wort Schlaf klingt verlockend und verführerisch. Ich gehe vor ihm in den Flur hinaus, und plötzlich fällt mir ein, was mich an jenem Abend, als ich noch klein war, so fasziniert hat.
    »Hey Henry. Wir gehen in die Bibliothek.« Er zuckt gleichgültig mit den Schultern. Ich gehe jetzt schnell, und er muss rennen, um Schritt zu halten. Die Bibliothek ist im zweiten Stock, im Ostflügel des Hauses. Dort angekommen, bleibe ich kurz stehen und betrachte die Schlösser. Henry sieht mich an, als wolle er sagen Na, das war’s wohl. Ich taste in meiner Tasche nach dem Brieföffner, schraube den Holzgriff ab, und siehe da, innen befindet sich eine schöne lange dünne Metallspitze. Eine Hälfte davon stecke ich in das Schloss und taste es ab. Ich kann den Bolzen schnappen hören, und als der Weg frei ist, schiebe ich die zweite Hälfte nach, lasse mein Lesezeichen am anderen Schloss entlanggleiten, und Hokuspokus, Sesam öffne dich!
    Mein Gefährte ist jedenfalls gebührend beeindruckt. »Wie hast du das gemacht?«
    »Ist gar nicht schwer. Ich zeig’s dir ein andermal. Entrezl« Ich halte ihm die Tür auf, er tritt ein. Dann schalte ich die Lichter an, und vor uns breitet sich der Lesesaal aus; schwere Holztische und -Stühle, kastanienbrauner Teppich, ein verboten großer Tisch für die Aufsicht. Die Bibliothek des Field Museum ist nicht dazu geeignet, die Phantasie von Fünfjährigen zu beflügeln. Es ist eine Präsenzbibliothek, die nur von Wissenschaftlern und Gelehrten genutzt wird. Bücherregale säumen die Wände, aber sie enthalten vorwiegend in Leder gebundene wissenschaftliche Zeitschriften aus der viktorianischen Zeit. Das Buch, worauf ich es abgesehen habe, befindet sich in einem riesigen Kasten aus Eiche und Glas, der allein in der Mitte des Raums steht. Mit meiner Haarklammer knacke ich das Schloss und öffne die Glastür. Man sollte sich hier im Museum wirklich etwas ernsthafter um die Sicherheit kümmern. Mein kleiner Einbruch bereitet mir keine Gewissensbisse, denn schließlich bin ich ein echter Bibliothekar, der ständig Führungen durch die Newberry macht. Ich gehe hinter den Tisch der Aufsicht, hole ein Stück Filz und ein paar Stützleisten und breite alles auf dem nächsten Tisch aus. Dann hebe ich das Buch vorsichtig aus dem Schaukasten auf den Filz und ziehe einen Stuhl heran. »Komm, stell dich hier drauf, dann siehst du besser.« Er steigt hoch, und ich öffne das Buch.
    Es handelt sich um Audubons Birds of America, das prachtvolle wunderschöne Elefantfolio, fast so groß wie mein junges Ich. Es ist die schönste Ausgabe, die es gibt, ich habe sie an vielen verregneten Nachmittagen bewundert. Als ich die erste Tafel aufschlage, lächelt Henry und schaut mich an. »>Eistaucher<«, liest er. »Sieht aus wie eine Ente.«
    »Ja, stimmt. Wetten, dass ich deinen liebsten Vogel errate?«
    Er schüttelt den Kopf und grinst.
    »Worum willst du wetten?«
    Er blickt an dem Tyrannosaurus Rex auf seinem T-Shirt hinunter und zuckt die Schultern. Ich kenne sein Gefühl nur zu gut.
    »Wie wär’s damit: Wenn ich richtig rate, darfst du einen Keks essen, und wenn ich falsch rate, darfst du auch einen essen.«
    Er überlegt und befindet

Weitere Kostenlose Bücher