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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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gieße Entchen samt Flüssigkeit in meine Hand. Es ringt nach Luft und würgt. »Warum hast du mich im Stich gelassen?«, fragt es, als es endlich sprechen kann. »Ich habe auf dich gewartet.«
    Ich träume, dass meine Mutter und ich in South Haven eine ruhige Wohnstraße entlangschlendern. Ich trage ein Baby im Arm. Im Gehen wird das Baby schwerer und schwerer, bis ich es kaum noch halten kann. Ich drehe mich zu meiner Mutter und sage ihr, dass ich das Kind nicht mehr tragen kann; sie nimmt es mir gern ab, dann gehen wir weiter. Wir gelangen an ein Haus und biegen auf einen schmalen Fußweg nach hinten in den Garten. Dort sind zwei Leinwände und ein Diaprojektor. Leute sitzen auf Gartenstühlen und betrachten Bilder von Bäumen. Auf jeder Leinwand ist ein halber Baum. Eine Hälfte ist Sommer, eine Hälfte Winter, die gleichen Bäume, nur verschiedene Jahreszeiten. Mein Baby lacht und quietscht vor Vergnügen.
    Ich träume, ich stehe in Sedgewick auf dem Bahnsteig und warte auf den Zug der braunen Linie. Ich trage zwei Einkaufstüten, die, wie sich bei näherem Hinsehen herausstellt, Schachteln mit Salzcrackern enthalten und ein sehr kleines tot geborenes Baby mit rotem Haar, eingewickelt in Klarsichtfolie.
    Ich träume, ich bin zu Hause in meinem alten Zimmer. Es ist spätabends, das Aquariumlicht erhellt schwach das Zimmer. Plötzlich erkenne ich entsetzt, dass ein kleines Tier im Wasser herumschwimmt. Rasch entferne ich den Deckel, nehme den Kescher und fange das Tier, das sich als Wüstenspringmaus mit Kiemen erweist. »Tut mir ehrlich Leid«, sage ich. »Ich hab dich ganz vergessen.« Die Wüstenspringmaus sieht mich nur vorwurfsvoll an.
    Ich träume, ich gehe in Meadowlark die Treppe hinauf. Alle Möbel sind verschwunden, die Räume leer, Staubfäden schweben im Sonnenlicht, das auf den polierten Eichenböden goldene Flecken bildet. Ich gehe durch den langen Flur, spähe in die Schlafräume und gelange zu meinem Zimmer, in dem einsam eine kleine Holzwiege steht. Alles ist still. Ich habe Angst, in die Wiege zu schauen. In Mamas Zimmer sind weiße Laken auf dem Boden ausgebreitet. Zu meinen Füßen ist ein winziger Blutstropfen, der ein Laken an der Spitze berührt und sich vor meinen Augen ausdehnt, bis der ganze Boden blutgetränkt ist.
Samstag, 23. September 2000 (Clare ist 29, Henry 31)
     
    Clare: Ich lebe unter Wasser. Alles scheint langsam und weit weg. Mir ist klar, dort oben gibt es eine Welt, eine sonnenbeschienene schnelle Welt, in der die Zeit wie trockener Sand durch ein Stundenglas rinnt, doch hier unten, wo ich bin, sind Luft, Klang, Zeit und Gefühl dumpf und dick. Ich bin mit meinem Baby in einer Taucherglocke, nur wir zwei versuchen in dieser fremden Atmosphäre zu überleben, aber ich fühle mich sehr allein. Hallo? Bist du da? Keine Antwort. Es ist tot, sage ich Amit. Nein, entgegnet sie und lächelt gepresst, nein, Clare, sehen Sie doch, da ist sein Herzschlag. Ich kann es nicht erklären. Henry schleicht herum und will mich füttern, massieren, aufheitern, bis ich ihn anfahre. Ich gehe durch den Garten in mein Atelier. Wie ein Museum kommt es mir vor, ein Mausoleum, so still, nichts, das lebt oder atmet, keine Ideen hier, nur Dinge, die mich vorwurfsvoll anstarren. Tut mir Leid, sage ich zu meinem leeren, verlassenen Zeichentisch, meinen trockenen Wannen und Schöpfformen, zu den halbfertigen Skulpturen. Tot geboren, denke ich und betrachte das mit schwertlilienblauem Papier bespannte Drahtgerüst, das noch im Juni so hoffnungsvoll schien. Meine Hände sind sauber, weich und rosig. Ich hasse sie. Ich hasse diese Leere. Ich hasse dieses Kind. Nein. Nein, ich hasse es nicht. Aber ich kann es einfach nicht finden.
    Mit einem Bleistift in der Hand setze ich mich ans Reißbrett, vor mir ein weißes Blatt Papier. Nichts kommt. Ich schließe die Augen, aber mir fällt nur eines ein: Rot. Also hole ich eine Tube Aquarellfarbe, Cadmiumrot, hole außerdem einen großen wuscheligen Pinsel, fülle ein Glas mit Wasser und bemale das Papier langsam mit Rot. Es glänzt. Das Papier ist weich von der Feuchtigkeit und dunkelt beim Trocknen nach. Ich sehe zu, wie es trocken wird. Es riecht nach Gummiarabikum. In die Mitte des Papiers zeichne ich ganz klein in schwarzer Tinte ein Herz, kein albernes Valentinstagherz, sondern ein anatomisch korrektes, winziges, puppengleiches Herz, und dann Venen, zarte straßenkartenartige Venen, die bis an die Ränder des Papiers reichen und das kleine Herz umfangen wie eine

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