Die Frau des Zeitreisenden
geküsst.« Oh, nein. Offenbar sehe ich ziemlich komisch aus, denn Clare lacht. Ich kann es nicht fassen. Was bin ich nur für ein Idiot.
»Ach, Clare. Bitte ... vergiss das eben, ja? Lösch es aus deinem Gedächtnis. Es ist nie passiert. Komm her. Gib mir eine zweite Chance, ja? Clare?«
Zögernd tritt sie auf mich zu. Ich lege meine Arme um sie, sehe sie an. Ihre Augen sind rot gerändert, ihre Nase geschwollen, und sie ist definitiv schwer erkältet. Ich lege ihr meine Hände auf die Ohren, neige ihren Kopf nach hinten und küsse sie, versuche ihr mein Herz zu schenken, zur sicheren Aufbewahrung, für den Fall, dass ich es wieder verliere.
Freitag, 9. Juni 2000 (Clare ist 29, Henry 36)
Clare: Schon den ganzen Abend ist Henry schrecklich ruhig, zerstreut und nachdenklich. Während des Abendessens schien er im Geist imaginäre Stapel nach einem Buch zu durchsuchen, das er 1942 oder so gelesen hat. Außerdem ist seine rechte Hand verbunden. Nach dem Essen schlich er ins Schlafzimmer und legte sich bäuchlings aufs Bett, sein Kopf hing über dem Fußende und die Füße auf meinem Kopfkissen. Ich ging ins Atelier, schrubbte Schöpfformen und Deckelrahmen und trank meinen Kaffee, aber es machte mir keinen Spaß, weil ich nicht wusste, was Henry bedrückt. Schließlich gehe ich ins Haus zurück. Er liegt noch in der gleichen Stellung auf dem Bett. Im Dunkeln.
Ich lege mich auf den Boden. Mein Rücken knackt laut, als ich mich ausstrecke.
»Clare?«
»Mmmm?«
»Erinnerst du dich noch an unseren ersten Kuss?«
»Lebhaft.«
»Schade.« Henry rollt sich herum.
Ich brenne vor Neugier. »Worüber hast du dich so aufgeregt? Du hattest etwas vor, aber es hat nicht geklappt, und du hast gesagt, es würde mir nicht gefallen. Was war das?«
»Wie kannst du dir bloß alles merken?«
»Ich bin das geborene Elefantenkind. Willst du’s mir jetzt erzählen?«
»Nein.«
»Wenn ich rate und Recht habe, sagst du’s mir dann?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich erschöpft bin und heute Abend nicht streiten möchte.«
Das möchte ich auch nicht. Ich liege gern hier auf dem Boden. Irgendwie ist es kalt, aber sehr stabil. »Du wolltest dich sterilisieren lassen.«
Henry schweigt. Er schweigt so lange, dass ich ihm am liebsten einen Spiegel vor den Mund halten möchte, um zu sehen, ob er noch atmet. Schließlich: »Woher weißt du das?«
»Wissen wäre zu viel gesagt. Ich habe befurchtet, das könnte es sein. Außerdem hab ich heute früh gesehen, wie du dir den Termin mit dem Arzt aufgeschrieben hast.«
»Aber den Zettel habe ich verbrannt .«
»Ich hab den Abdruck auf dem Blatt darunter gesehen.«
Henry knurrt. »Na gut, Sherlock. Du hast mich erwischt.«
Wir liegen weiter friedlich im Dunkeln. »Nur zu.«
»Was?«
»Lass dich sterilisieren. Wenn du unbedingt musst.«
Henry rollt sich noch einmal herum und sieht mich an. Ich erkenne nur seinen dunklen Kopf vor der dunklen Decke. »Du schreist mich ja gar nicht an.«
»Nein. Ich kann auch nicht so weiterleben. Ich strecke die Waffen. Du hast gewonnen, wir geben es auf, ein Kind zu bekommen.«
»Gewinnen würde ich das nicht gerade nennen. Mir erscheint es eher... notwendig.«
»Egal.«
Henry steigt vom Bett und setzt sich zu mir auf den Boden. »Danke.«
»Gern geschehen.« Er küsst mich. Ich stelle mir den trostlosen Novembertag im Jahr 1986 vor, aus dem Henry eben gekommen ist, den Wind, die Wärme seines Körpers in dem kalten Obstgarten. Und schon bald, zum ersten Mal seit vielen Monaten, schlafen wir miteinander, ohne uns über die Folgen zu grämen. Henry hat sich die Erkältung geholt, die ich vor sechzehn Jahren hatte. Vier Wochen später lässt Henry sich sterilisieren, und ich stelle fest, dass ich zum sechsten Mal schwanger bin.
BABYTRÄUME
September 2000 (Clare ist 29)
Clare: Ich träume, ich gehe die Treppe in Großmutter Abshires Keller hinunter. An der Wand zu meiner Linken ist noch immer die lange Rußspur von der Krähe, die einmal durch den Kamin heruntergeflogen war; die Stufen sind staubig, das Geländer hinterlässt graue Flecken auf meiner Hand, ich suche festen Halt; unten gehe ich in den Raum, vor dem ich mich immer gefürchtet hatte, als ich klein war. In diesem Raum befinden sich tiefe Regale mit Reihen um Reihen von eingemachten Sachen: Tomaten und Pickles, Mais-Relish und Rote Bete. Sie sehen aus wie einbalsamiert. In einem der Gläser ist ein kleiner Entenfötus. Vorsichtig öffne ich das Glas und
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