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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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durch die Zeit.«
    »Was?«
    »Klar. Wie soll er sonst die vielen Geschenke in einer Nacht abliefern? Er dreht die Uhr ständig ein paar Stunden zurück, bis er durch jeden einzelnen Kamin gerutscht ist.«
    »Der Weihnachtsmann ist magisch. Du bist nicht der Weihnachtsmann.«
    »Ich bin also nicht magisch? Ach, du liebes Lieschen, du bist eine harte Nuss.«
    »Ich bin nicht dein Lieschen.«
    »Weiß ich doch. Du bist Clare. Clare Anne Abshire, geboren am 24. Mai 1971. Deine Eltern sind Philip und Lucille Abshire, und du wohnst mit ihnen, deiner Grandma, deinem Bruder Mark und deiner Schwester Alicia in dem großen Haus dort oben.«
    »Nur weil du Sachen weißt, bedeutet es noch lange nicht, dass du aus der Zukunft kommst.«
    »Wenn du noch eine Weile bleibst, kannst du sehen, wie ich verschwinde.« Ich bin überzeugt, diese Aussicht hält Clare bei der Stange, denn sie hat mir mal erzählt, das sei für sie das Beeindruckendste an unserer ersten Begegnung gewesen.
    Schweigen. Clare tritt von einem Fuß auf den anderen und verjagt eine Stechmücke. »Kennst du den Weihnachtsmann?«
    »Du meinst persönlich? Ähm, nein.« Meine Lippe blutet nicht mehr, aber ich muss schrecklich aussehen. »Hey, Clare, du hast nicht zufällig ein Pflaster? Oder etwas zu essen? Vom Zeitreisen werde ich immer ziemlich hungrig.«
    Sie denkt darüber nach. Dann greift sie in ihre Jackentasche, zieht einen angebissenen Schokoriegel heraus und wirft ihn mir zu.
    »Vielen Dank. Die mag ich unheimlich gern.« Ich esse ihn ordentlich, aber rasend schnell. Mein Blutzucker ist niedrig. Das Papier lege ich in ihre Einkaufstüte. Clare ist begeistert.
    »Du isst wie ein Hund.«
    »Stimmt gar nicht!« Ich bin zutiefst gekränkt. »Ich hab opponierbare Daumen, vielen Dank.«
    »Was sind ponierbare Daumen?«
    »Mach mal so.« Ich mache das »Okay«-Zeichen, halte den Daumen nach oben. Clare macht ebenfalls das »Okay«-Zeichen. »Das kannst du nur mit opponierbaren Daumen. Damit kannst du Gläser öffnen, deine Schuhe zubinden und andere Dinge, die Tiere nicht können.«
    Clare findet meine Erklärung nicht befriedigend. »Schwester Car-melita sagt, Tiere haben keine Seele.«
    »Natürlich haben Tiere eine Seele. Wie kommt sie denn auf die Idee?«
    »Sie meint, das sagt der Papst.«
    »Der Papst ist ein alter Brummbär. Tiere haben viel reinere Seelen als wir. Sie lügen nie, schnauzen andere nicht an.«
    »Aber sie fressen sich gegenseitig.«
    »Klar, das müssen sie auch. Tiere können schließlich nicht zu Dairy Queen gehen und sich eine Tüte Vanilleeis mit Streusel holen, oder?« Clare isst für ihr Leben gern Vanilleeis mit Streusel (als Kind. Als Erwachsene isst sie am liebsten Sushi, besonders von Katsu in der Peterson Avenue).
    »Sie könnten doch auch Gras fressen.«
    »Wir auch, tun wir aber nicht. Wir essen Hamburger.«
    Clare setzt sich an den Rand der Lichtung. »Etta sagt, ich darf nicht mit Fremden sprechen.«
    »Ein guter Rat.«
    Schweigen.
    »Wann verschwindest du denn?«
    »Wenn ich dazu bereit bin. Langweilst du dich mit mir?« Clare verdreht die Augen. »Woran arbeitest du gerade?«
    »Schönschreiben.«
    »Darf ich mal sehen?«
    Clare steht vorsichtig auf, sammelt ein paar Papierbögen auf und fixiert mich dabei mit ihrem bösen Blick. Langsam beuge ich mich vor und strecke die Hand aus, als wäre sie ein Rottweiler, und sie gibt mir schnell die Papiere und zieht sich zurück. Interessiert betrachte ich die Blätter, als hätte sie mir einen Stapel Originalzeichnungen von Bruce Rogers für >Centaur< oder das Book of Keils gegeben. In Druckbuchstaben hat sie, immer wieder, größer und größer werdend, »Clare Anne Abshire« geschrieben. Sämtliche Ober- und Unterlängen sind mit schwungvollen Schnörkeln versehen, und in die Punzen hat sie Smileys gemalt. Alles sehr schön.
    »Sieht hübsch aus.«
    Clare ist hocherfreut, wie immer, wenn man sie für ihre Arbeit lobt. »Ich könnte eins für dich machen.«
    »Das wäre schön. Leider darf ich nichts mitnehmen, wenn ich durch die Zeit reise, aber vielleicht könntest du es für mich aufbewahren, dann habe ich meine Freude daran, wenn ich hier bin.«
    »Warum darfst du nichts mitnehmen?«
    »Na, denk doch mal nach. Wenn wir Zeitreisenden anfangen würden, Dinge durch die Zeit zu schleppen, wäre die Welt bald ein einziges Chaos. Angenommen, ich würde Geld in die Vergangenheit mitnehmen. Dann könnte ich vorher alle Gewinnzahlen und Footballergebnisse in Erfahrung bringen und

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