Die Frau des Zeitreisenden
Lichtung, und Mark legt das Gewehr an, zielt sorgsam, drückt ab und:
Ein Schuss wird ertönen, dann ein Schrei, ein menschlicher Schrei. Dann folgt eine Pause. Und dann: »Clare! Clare!« Und dann nichts.
Einen Augenblick werde ich dasitzen und nicht denken, nicht atmen. Philip wird losrennen, dann werde ich losrennen und schließlich Mark, wir stoßen an der betreffenden Stelle zusammen:
Doch da ist nichts. Blut auf der Erde, glänzend und dick. Umgeknicktes vertrocknetes Gras. Wir werden uns über die leere Erde hinweg anstarren, ohne uns zu erkennen.
Auch Clare wird den Schrei in ihrem Bett hören. Jemand wird ihren Namen rufen, und sie wird sich aufsetzen, ihr Herz hüpft vor Aufregung. Sie rennt nach unten, zur Tür hinaus, läuft in ihrem Nachthemd zur Wiese. Wenn sie uns drei sieht, wird sie verwirrt stehen bleiben. Hinter dem Rücken ihres Vaters und Bruders werde ich mir den Zeigefinger auf die Lippen legen. Philip geht zu ihr, und ich werde mich abwenden, werde im Schutz des Obstgartens stehen und beobachten, wie sie in den Armen ihres Vaters zittert, während Mark, mit den Bartstoppeln eines Fünfzehnjährigen am Kinn, ungeduldig und verdutzt neben mir stehen und mich mustern wird, als wollte er sich partout an etwas erinnern.
Und Clare wird mich ansehen, ich werde ihr zuwinken, und sie wird mit ihrem Dad zum Haus zurückgehen, sie wird zurückwinken, schlank, von ihrem Nachthemd umweht wie ein Engel, und sie wird immer kleiner werden, wird sich weiter entfernen und im Haus verschwinden, während ich vor einem kleinen zertrampelten blutigen Fleckchen Erde stehen und wissen werde: Irgendwo dort draußen sterbe ich.
DIE EPISODE IM PARKHAUS AN DER MONROE STREET
Montag, 7. Januar 2006 (Henry ist 43)
Henry: Es ist kalt. Sehr, sehr kalt, und ich liege auf der Erde im Schnee. Wo bin ich? Ich versuche mich aufzusetzen. Meine Füße sind gefühllos, ich kann sie nicht mehr spüren. Ich befinde mich auf einem freien Gelände ohne Häuser und Bäume. Wie lange bin ich schon hier? Mühsam komme ich auf Hände und Füße. Ich sehe mich um. Ich bin im Grant Park. Das dunkle und geschlossene Art Institute steht jenseits einer unberührten Schneedecke in weiter Ferne. Die wunderschönen Gebäude der Michigan Avenue liegen still da. Autos rollen über den Lake Shore Drive, Scheinwerfer zerschneiden die Nacht. Über dem See schwebt eine schwache Lichtlinie; der Tag bricht an. Ich muss von hier weg, ich muss wieder warm werden.
Ich stehe auf. Meine Füße sind weiß und steif. Ich kann sie weder spüren noch bewegen, versuche aber dennoch zu laufen, stolpere vorwärts durch den Schnee, falle gelegentlich hin, raffe mich wieder auf und schleppe mich weiter, so geht es unentwegt, bis ich nur noch krieche. Ich krieche über eine Straße. Ich krieche rückwärts eine Betontreppe hinunter und halte mich dabei am Geländer fest. Salz dringt in die offenen Stellen an meinen Händen und Knien. Ich krieche zu einem Münztelefon.
Sieben Klingelzeichen. Acht. Neun. »Hallo«, meldet sich mein Ich.
»Hilf mir«, sage ich. »Ich bin im Parkhaus an der Monroe Street. Hier unten ist es so wahnsinnig kalt. Ich bin in der Nähe der Wachstation. Komm und hol mich.«
»Gut. Bleib dort. Wir brechen gleich auf.«
Ich will den Hörer einhängen, verfehle aber die Gabel. Meine Zähne klappern unkontrolliert. Ich krieche zur Wachstation und hämmere gegen die Tür. Niemand da. Im Inneren sehe ich Videomonitore, ein Heizgerät, eine Jacke, einen Schreibtisch, einen Stuhl. Ich drehe am Türknopf. Abgeschlossen. Ich habe nichts, womit ich ihn öffnen könnte. Das Fensterglas ist mit Draht verstärkt. Mir ist entsetzlich kalt. Kein Auto parkt hier unten.
»Hilfe!«, rufe ich, doch es kommt niemand. Vor der Tür rolle ich mich zu einer Kugel zusammen, ziehe die Knie ans Kinn und lege die Hände um meine Füße. Niemand kommt, und dann werde ich endlich, endlich ohnmächtig.
BRUCHSTÜCKE
Montag, Dienstag, Mittwoch, 25., 26. und 27. September 2006 (Clare ist 35, Henry 43)
Clare: Henry war den ganzen Tag fort. Abends sind Alba und ich zu McDonald’s essen gegangen. Wir haben Schwimmen und Mau-Mau gespielt; Alba hat ein Bild von einem Mädchen mit langen Haaren gemalt, das vor einem Hund flüchtet. Wir haben ihr Schulkleid für morgen ausgesucht. Nun liegt sie im Bett. Ich sitze auf der vorderen Veranda und versuche, Proust zu lesen; die französische Lektüre macht mich träge und ich schlafe schon fast, da kracht es im
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