Die Frau des Zeitreisenden
als würde man auf die Entwicklung eines Fotos warten, als würde man zusehen, wie die Grautöne in der Schale mit den Chemikalien langsam in Schwarz übergehen. An den Knöcheln beider Füße erscheint ein Hauch von Rot. Das Rot breitet sich in Klecksen über die linke Ferse aus, schließlich erröten zögerlich auch einige Zehen. Der rechte Fuß bleibt hartnäckig bleich. Ein wenig Rosa erscheint widerstrebend bis zum Fußballen, aber weiter geht es nicht. Nach einer Stunde trocknen Dr. Murray und Sue vorsichtig Henrys Füße ab, und Sue steckt ihm kleine Baumwolltupfer zwischen die Zehen. Sie legen ihn wieder ins Bett zurück und errichten ein Gestell über seinen Füßen, damit nichts sie berührt.
Am folgenden Abend:
Es ist spätnachts und ich sitze im Mercy Hospital am Bett von Henry, beobachte ihn beim Schlafen. Gomez sitzt auf der anderen Bettseite auf einem Stuhl und schläft ebenfalls. Er schläft mit zurückgelegtem Kopf und offenem Mund, und gelegentlich gibt er ein leises Schnarchen von sich und dreht das Gesicht zur anderen Seite.
Henry liegt reglos und stumm da. Der Tropf biept. Am Bettende hebt eine zeltartige Vorrichtung die Decke von der Stelle weg, an der seine Füße liegen müssten, aber Henrys Füße sind nun nicht mehr da. Die Erfrierungen haben sie ruiniert. Heute früh wurden beide Füße oberhalb der Knöchel amputiert. Ich kann mir nicht vorstellen, will mir nicht vorstellen, was da unter der Decke liegt. Henrys verbundene Hände ruhen über der Decke, und ich nehme eine Hand, spüre, wie kühl und trocken sie ist, wie der Puls im Gelenk schlägt, wie greifbar Henrys Hand in der meinen ist. Nach der Operation fragte mich Dr. Murray, was sie mit Henrys Füßen machen soll. Sie wieder befestigen wäre wohl die richtige Antwort gewesen, aber ich zuckte nur die Achseln und sah woandershin.
Eine Schwester kommt herein, lächelt mich an und gibt Henry seine Spritze. Ein paar Minuten später lullt das Mittel sein Gehirn ein, er stößt einen Seufzer aus und wendet mir das Gesicht zu. Seine Augen öffnen sich ganz leicht, aber dann schläft er schon wieder.
Am liebsten würde ich beten, aber mir fallen keine Gebete ein, mir geht nur durch den Kopf: Ene, mene, meine, me, pack den Tiger schnell am Zeh, wenn er brüllt, dann tut es weh, ene, mene, meine, me. Oh, Gott, bitte nicht, bitte tu mir das nicht an. Denn das Schnark war ein Buuhdschamm. Nein. Mir fällt nichts ein. Envoyez chercher le médecin. Qu’avez-vous? Il faudra aller à l’hôpital. Je me suis coupé assez fortement. Otez le bandange et laissez-moi voir. Oui, c’est une coupure profonde.
Ich weiß nicht, wie spät es ist. Draußen wird es langsam hell. Ich lege Henrys Hand wieder auf die Decke. Er zieht sie wie zum Schutz an die Brust.
Gomez gähnt und streckt die Arme aus, seine Knöchel knacken. »Morgen, Kätzchen«, sagt er, steht auf und trottet ins Bad. Ich kann ihn pinkeln hören; Henry schlägt die Augen auf.
»Wo bin ich?«
»Im Mercy. 27. September 2006.«
Henry starrt an die Zimmerdecke. Dann schiebt er sich langsam am Kissen hoch und starrt aufs Fußende des Bettes. Er beugt sich vor und greift mit den Händen unter die Decke. Ich schließe die Augen.
Henry beginnt zu weinen.
Dienstag, 17. Oktober 2006 (Clare ist 35, Henry 43)
Clare: Henry ist vor einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen worden. Er verbringt die Tage im Bett, eingerollt, den Blick zum Fenster gewandt, sinkt ständig in morphiumgedämpften Schlaf und wacht wieder auf. Ich versuche ihm Suppe zu geben, Toast, Makkaroni mit Käse, aber er isst nicht viel. Er redet auch nicht viel. Alba schleicht stumm um ihn herum, eifrig darauf bedacht, Daddy eine Freude zu machen, ihm eine Orange zu bringen, eine Zeitung, ihren Teddy; doch Henry lächelt nur geistesabwesend, und der kleine Gabenhaufen liegt unberührt auf dem Nachtkästchen. Einmal am Tag kommt eine forsche Schwester vorbei, um die Verbände zu wechseln und Ratschläge zu erteilen, doch sobald sie in ihrem roten VW Käfer verschwunden ist, versinkt Henry in seine unnahbare stumme Rolle. Ich helfe ihm beim Benutzen der Bettpfanne. Ich sorge dafür, dass er den Schlafanzug wechselt. Ich frage ihn, wie er sich fühlt, was er braucht, und er antwortet vage oder gar nicht. Obwohl ich Henry direkt vor mir sehe, ist er verschwunden.
Ich gehe mit einem Korb voll Wäsche unterm Arm durch den Flur, komme am Schlafzimmer vorbei und sehe Alba durch die leicht geöffnete Tür neben Henry stehen, der
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