Die Frau des Zeitreisenden
Clare.
»Warum? Alles hängt mit dem freien Willen zusammen.«
Clare zieht Schuhe und Socken aus, steckt die Socken in die Schuhe und stellt sie ordentlich an den Deckenrand. Dann nimmt sie meine herumliegenden Gummilatschen und stellt sie penibel neben ihre Schuhe, als wäre die Decke eine Reisstrohmatte. »Ich dachte immer, freier Wille hätte mit Sünde zu tun.«
Ich denke darüber nach. »Nein«, entgegne ich, »warum sollte der freie Wille auf Richtig und Falsch beschränkt sein? Zum Beispiel hast du eben aus freiem Willen entschieden, deine Schuhe auszuziehen. Ob du Schuhe trägst oder nicht ist völlig schnurz und interessiert keinen Menschen, es ist weder sündig noch tugendhaft und hat keinen Einfluss auf die Zukunft, aber du hast deinen freien Willen ausgeübt.«
Clare winkt ab. »Aber manchmal erzählst du mir etwas, und dann denke ich, die Zukunft ist schon da, verstehst du? Als hätte meine Zukunft in der Vergangenheit stattgefunden, und ich kann nichts daran ändern.«
»Das nennt man Determinismus«, erkläre ich ihr. »Er verfolgt mich in meinen Träumen.«
Clare ist neugierig. »Warum?«
»Na ja, wenn du dich von der Vorstellung, dass deine Zukunft unabänderlich ist, eingeengt fühlst, wie soll ich mich dann fühlen? Ich renne ständig gegen die Tatsache an, dass ich Ereignisse nicht ändern kann, obwohl ich unmittelbar daran beteiligt bin und sie vor mir sehe.«
»Aber Henry, natürlich änderst du manches! Du hast zum Beispiel die Sache aufgeschrieben, die ich dir 1991 wegen des Babys mit dem Down Syndrom geben soll. Und die Liste, wenn ich die nicht hätte, wüsste ich nie, wann ich dich treffen kann. Du änderst ständig etwas.«
Ich muss lächeln. »Ich kann nur Dinge tun, die ermöglichen, was schon geschehen ist. Aber ich kann zum Beispiel nicht rückgängig machen, dass du dir eben die Schuhe ausgezogen hast.«
Clare lacht. »Warum sollte dir auch was dran liegen, ob ich meine Schuhe ausziehe oder nicht?«
»Tut es ja nicht. Aber selbst wenn es so wäre, ist es jetzt ein unabänderlicher Teil in der Geschichte des Universums und daran kann ich nichts ändern.« Ich genehmige mir einen Donut. Einen Berliner, meine Lieblingssorte. Der Zuckerguss ist in der Sonne leicht geschmolzen und klebt mir an den Fingern.
Clare isst ihren Donut, rollt die Aufschläge ihrer Jeans hoch, setzt sich in den Schneidersitz. Dann kratzt sie sich im Nacken und sieht mich verärgert an. »Jetzt verunsicherst du mich. Du tust, als wäre jedes Naseputzen von mir ein historisches Ereignis.«
»Ist es ja auch.«
Sie verdreht die Augen. »Was ist das Gegenteil von Determinismus?«
»Chaos.«
»Oh. Davon halte ich nicht viel. Findest du es gut?«
Ich beiße ein großes Stück von meinem Berliner ab und überlege, was ich davon halte. »Nun, ja und nein. Chaos bedeutet größere Freiheit, wenn nicht totale Freiheit. Aber ohne Sinn. Ich möchte zwar frei handeln können, aber ich möchte auch, dass meine Handlungen einen Sinn haben.«
»Aber Henry, du hast Gott vergessen! Wieso kann es keinen Gott geben, der allem einen Sinn gibt?« Clare runzelt nachdenklich die Stirn und blickt beim Sprechen über die Wiese.
Ich stecke mir den Rest des Berliners in den Mund und kaue langsam, um Zeit zu gewinnen. Sobald Clare Gott erwähnt, fangen meine Hände zu schwitzen an und ich verspüre das dringende Bedürfnis, mich zu verstecken, davonzulaufen oder zu verschwinden.
»Ich weiß es nicht, Clare. Um ehrlich zu sein, mir erscheint das Leben zu beliebig und zu belanglos, als dass es einen Gott geben könnte.«
Clare schlingt die Arme um ihre Knie. »Aber eben hast du noch gesagt, dass alles irgendwie im Voraus geplant scheint.«
»Pfff«, sage ich, packe Clare an den Knöcheln, ziehe ihre Füße auf meinen Schoß und halte sie fest. Clare lacht, stützt sich hinten auf die Ellbogen. Ihre Füße, die sehr rosa und sehr sauber sind, fühlen sich kalt an. »Na schön«, sage ich, »versuchen wir’s. Wir haben die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Einem festen Universum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig und parallel nebeneinander existieren und in dem alles schon passiert ist; dem Chaos, in dem alles möglich und nichts vorhersehbar ist, weil wir nicht alle Variablen kennen; und einem christlichen Universum, in dem Gott alles erschaffen und jedes seinen Sinn hat, uns aber wenigstens der freie Wille bleibt. Richtig?«
Clare wackelt mir mit den Zehen zu. »Kann sein.«
»Und wofür stimmst
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