Die Frau des Zeitreisenden
ich sehe, der Mann ist Henry. Was macht Henry bei Daddy und Mark? Ich renne zu ihnen, das trockene Gras schneidet mir in die Füße, und Dad kommt mir entgegen. »Liebling«, sagt er, »was machst du so früh hier draußen?«
»Jemand hat mich gerufen«, erwidere ich. Er lächelt mich an. Dummes Mädchen, will sein Lächeln sagen, und ich sehe Henry an, ob er es mir erklären wird. Warum hast du mich gerufen, Henry, aber er schüttelt den Kopf und legt einen Finger auf die Lippen, Seht, nichts sagen, Clare. Er stapft in den Obstgarten, und ich will sehen, was ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, aber da liegt nichts, und Daddy sagt: »Geh wieder schlafen, Clare, es war nur ein Traum.« Er legt den Arm um mich und schlendert langsam mit mir zum Haus zurück, und als ich mich umdrehe, winkt Henry und lächelt. Schon gut, Clare, später erkläre ich dir alles (aber wie ich ihn kenne, wird er vermutlich nichts erklären, sondern ich muss es allein herausfmden oder irgendwann erklärt es sich von selbst). Ich winke zurück und sehe dann schnell zu Mark, ob der es bemerkt hat, aber er steht mit dem Rücken zu uns, er ist genervt und wartet darauf, dass ich endlich verschwinde, damit er und Daddy wieder auf die Jagd gehen können, aber was will Henry hier und worüber haben sie sich unterhalten? Ich drehe mich noch einmal um, sehe aber keinen Henry mehr, und Daddy sagt: »Jetzt geh schon, Clare, leg dich wieder ins Bett«, und küsst mich auf die Stirn. Er wirkt gereizt, also laufe ich los, renne zum Haus zurück und leise die Treppe hinauf, und dann sitze ich zitternd auf dem Bett und verstehe noch immer nicht, was eben geschehen ist. Aber ich spüre, es war etwas Schlimmes, etwas sehr, sehr Schlimmes.
Montag, 2. Februar 1987 (Clare ist 15, Henry 38)
Clare: Bei meiner Rückkehr von der Schule wartet Henry im Leseraum auf mich. Ich habe ihm einen kleinen Raum neben dem Heizungskeller hergerichtet, auf der anderen Seite des Fahrradkellers. Meine Familie habe ich wissen lassen, dass ich mich zum Lesen gern im Keller aufhalte, und tatsächlich verbringe ich dort viel Zeit, so dass niemand Verdacht schöpft. Henry hat einen Sessel unter den Türknopf gezwängt. Nach vier Mal Klopfen lässt er mich herein. Er hat sich eine Art Nest aus Kissen, Sesselpolstern und Decken gebaut und unter meiner Schreibtischlampe alte Zeitschriften gelesen. Er trägt eine alte Jeans von Dad, dazu ein kariertes Flanellhemd, er ist unrasiert und sieht müde aus. Heute früh habe ich die Hintertür für ihn offen gelassen, und jetzt ist er da.
Ich stelle das von mir mitgebrachte Essenstablett auf den Boden. »Ich könnte dir ein paar Bücher runterbringen.«
»Eigentlich bin ich bestens versorgt.« Er hat Mad-Hefte aus den 60er Jahren gelesen. »Und das ist unverzichtbare Lektüre für Zeitreisende, die auf die Schnelle alle möglichen Faktoiden wissen müssen«, sagt er und hält einen Welt-Almanach Jahrgang 1968 hoch.
Ich setze mich neben ihn auf die Decken und sehe ihn an, ob er will, dass ich mich woanders hinsetze. Als ich merke, wie er darüber nachdenkt, halte ich meine Hände hoch und setze mich dann drauf. Er lächelt und sagt: »Fühl dich wie zu Hause.«
»Von wann kommst du?«
»2001. Oktober.«
»Du siehst müde aus.« Man sieht ihm an, wie er mit sich kämpft, ob er mir den Grund für seine Müdigkeit erzählen soll; er entscheidet sich dagegen. »Was haben wir 2001 vor?«
»Große und anstrengende Dinge.« Henry beißt in das Roastbeef-Sandwich, das ich ihm mitgebracht habe. »Hey, das schmeckt gut.«
»Hat Nell gemacht.«
Henry lacht. »Was mir immer ein Rätsel bleiben wird, ist, dass du große Skulpturen schaffst, die orkanartigen Winden trotzen, du kannst mit Färbanweisungen umgehen, Kozo-Fasern kochen und alles Mögliche, aber was Essen angeht, hast du zwei linke Hände. Schon verrückt.«
»Eine mentale Blockade. Eine Phobie.«
»Sehr komisch.«
»Sobald ich die Küche betrete, sagt ein dünnes Stimmchen zu mir: >Geh weg.< Und ich gehorche.«
»Isst du auch genug? Du siehst dünn aus.«
Aber ich fühle mich dick. »Natürlich esse ich.« Mir kommt ein düsterer Gedanke. »Bin ich 2001 sehr dick? Vielleicht findest du mich deshalb zu dünn?«
Henry lacht über einen Witz, den ich nicht verstehe. »Na ja, im Moment, also in meiner Gegenwart, bist du etwas rundlich, aber das geht vorbei.«
»Igitt.«
»Rundlich ist schön. Es wird dir sehr gut stehen.«
»Nein danke.« Henry sieht mich besorgt an. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher