Die Frau des Zeitreisenden
bin ja nicht magersüchtig oder so. Deswegen musst du dir wirklich keine Sorgen machen.«
»Na egal, ich dachte nur, weil deine Mom dich deswegen immer so genervt hat.«
»>Hat?<«
»Nervt.«
»Warum hast du >hat< gesagt?«
»Einfach so. Lucille geht’s gut. Keine Sorge.«
Er lügt. Mein Magen verkrampft sich, ich schlinge die Arme um meine Knie und senke den Kopf.
Henry: Wie konnte mir bloß ein Versprecher dieser Größenordnung unterlaufen! Ich streichle Clares Haare und wünschte sehnlichst, ich könnte kurz in meine Gegenwart zurückgehen, nur so lange, bis ich Clares Rat eingeholt und herausgefunden habe, was ich ihr mit fünfzehn über den Tod ihrer Mutter erzählen soll. Schuld daran ist nur mein ständiger Schlafmangel. Mit ein wenig Schlaf hätte ich schneller geschaltet oder wenigstens meinen Schnitzer besser überspielt. Aber Clare, der ehrlichste Mensch, den ich kenne, reagiert auf jede noch so kleine Lüge überaus empfindlich, und jetzt bleiben mir nur drei Alternativen: Ich verweigere jede nähere Erklärung, was sie auf die Palme bringen wird. Ich lüge, was sie nicht akzeptieren wird. Oder ich sage die Wahrheit, was sie aus der Bahn werfen und die Beziehung zu ihrer Mutter nachhaltig beeinflussen wird.
Clare sieht mich an. »Sag’s mir.«
Clare: Henry sieht gequält aus. »Ich kann nicht, Clare.«
»Warum nicht?«
»Weil es nicht gut ist, Dinge im Voraus zu wissen. Das vermasselt dir dein Leben.«
»Ja. Aber du kannst mir keine halben Sachen erzählen.«
»Es gibt nichts zu erzählen.«
Langsam packt mich die Panik. »Sie hat sich umgebracht.« Ein Gefühl der Gewissheit durchflutet mich. Genau das habe ich immer am meisten gefürchtet.
»Nein. Nein. Absolut nicht.«
Ich starre Henry an, er sieht so unglücklich aus. Schwer zu sagen, ob er die Wahrheit sagt. Wenn ich doch nur seine Gedanken lesen könnte, dann wäre das Leben um vieles einfacher. Mama. Ach, Mama.
Henry: Das Ganze ist entsetzlich. In dieser Ungewissheit darf ich Clare nicht zurücklassen.
»Gebärmutterkrebs«, sage ich ganz ruhig.
»Gott sei Dank«, erwidert sie und beginnt zu weinen.
Freitag, 5. Juni 1987 (Clare ist 16, Henry 32)
Clare: Den ganzen Tag habe ich auf Henry gewartet. Ich bin so aufgeregt. Gestern bekam ich meine Fahrerlaubnis, und Daddy hat mir erlaubt, heute Abend mit dem Fiat zu Ruths Party zu fahren. Mama gefällt das gar nicht, aber da Daddy sein Wort schon gegeben hat, kann sie nicht mehr viel ändern. Nach dem Abendessen höre ich, wie sie in der Bibliothek streiten.
»Du hättest mich wenigstens fragen können...«
»Ich fand es wirklich belanglos, Lucy...«
Ich hole mein Buch und gehe hinaus auf die Wiese, lege mich ins Gras. Die Sonne geht langsam unter. Kühl ist es hier, und im Gras wimmelt es von kleinen weißen Motten. Über den Bäumen im Westen leuchtet der Himmel rosa und orange, über mir ist er ein Bogen aus immer dunkler werdendem Blau. Ich überlege gerade, ob ich zurückgehen und mir einen Pullover holen soll, da höre ich jemanden durchs Gras gehen. Und tatsächlich, es ist Henry. Er betritt die Lichtung und setzt sich auf den Stein. Ich beobachte ihn vom Gras aus. Er sieht ziemlich jung aus, vielleicht Anfang dreißig, trägt ein schlichtes schwarzes T-Shirt, Jeans und Basketballschuhe. Ganz ruhig sitzt er da und wartet. Ich dagegen halte es keine Sekunde länger aus und springe auf, um ihn zu erschrecken.
»Himmel, Clare, ich bin ein alter Mann, mich trifft noch der Herzschlag.«
»Du bist kein alter Mann.«
Henry lächelt. Was das Alter angeht, ist er ziemlich eigen.
»Küss mich«, verlange ich, und er küsst mich.
»Und wofür, wenn ich fragen darf?«
»Ich hab meinen Führerschein!«
Henry macht ein entsetztes Gesicht. »O nein. Ich meine, herzlichen Glückwunsch.«
Ich strahle ihn an, meine gute Laune ist unerschütterlich. »Du bist nur neidisch.«
»Allerdings. Ich fahre unheimlich gern, tue es aber nie.«
»Und warum nicht?«
»Zu gefährlich.«
»Schisser.«
»Ich meine für andere Leute. Stell dir vor, was passieren würde, wenn ich während des Fahrens verschwinde. Das Auto würde immer weiter rollen und Peng jede Menge Blut und Verletzte. Gar nicht schön.«
Ich setze mich neben Henry auf den Stein und übersehe geflissentlich, wie er zur Seite rutscht. »Heute Abend gehe ich zu einer Party bei Ruth. Willst du mitkommen?«
Er hebt eine Augenbraue, normalerweise ein sicheres Zeichen, dass er gleich aus einem Buch zitiert, das
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