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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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du?«
    Clare bleibt stumm. Ihr Pragmatismus und ihre romantischen Gefühle für Jesus und Maria halten sich bei ihr, mit dreizehn, fast die Waage. Noch vor einem Jahr hätte sie sich ohne zu zögern für Gott entschieden. In zehn Jahren wird sie die deterministische Weitsicht bevorzugen, und noch zehn Jahre später glaubt sie an die Willkürlichkeit des Universums und dass Gott, wenn es ihn gibt, unsere Gebete nicht erhört, dass Ursache und Wirkung unumgänglich und brutal, letztlich aber bedeutungslos sind. Und danach? Ich weiß es nicht. Im Moment jedenfalls sitzt Clare an der Schwelle zur Pubertät, in der einen Hand ihren Glauben, in der anderen ihren wachsenden Skeptizismus, und sie kann nur versuchen, beide in Einklang zu bringen oder zusammenzupressen, bis sie verschmelzen. Sie schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich will Gott. Ist das in Ordnung?«
    Ich komme mir vor wie ein Idiot. »Natürlich. Das ist dein Glaube.«
    »Ich will es aber nicht bloß glauben, ich will, dass es wahr ist.«
    Ich lasse meinen Daumen über Clares Fußrücken gleiten, und sie schließt die Augen. »Du und der heilige Thomas von Aquin.«
    »Von dem hab ich schon gehört«, sagt Clare, als handle es sich um einen verloren geglaubten Lieblingsonkel oder den Gastgeber einer Fernsehshow, die sie immer als kleines Mädchen sah.
    »Auch er wollte Ordnung, Vernunft und Gott. Er hat im dreizehnten Jahrhundert gelebt und an der Universität von Paris gelehrt. Aquin glaubte an Aristoteles und an Engel.«
    »Engel find ich toll«, sagt Clare. »Sie sind so schön. Ich wünschte, ich hätte Flügel und könnte herumfliegen und auf Wolken sitzen.«
    »Ein jeder Engel ist schrecklich.«
    Clare stößt einen kurzen leisen Seufzer aus, der so viel heißt wie, von wem stammt das jetzt wieder? »Hm?«
    »Das ist eine Zeile aus einer Reihe von Gedichten mit dem Titel Duineser Elegien von einem Mann namens Rilke. Er ist einer unserer liebsten Dichter.«
    Clare lacht. »Da, schon wieder!«
    »Was denn?«
    »Du sagst mir voraus, was ich später mag.« Clare bohrt mir ihre Zehen in den Schoß. Ohne nachzudenken lege ich mir ihre Füße auf die Schultern, aber das erscheint mir irgendwie zu intim, also nehme ich die Füße wieder weg, halte sie mit einer Hand zusammen in die Luft, und sie liegt unschuldig und engelgleich mit dem Rücken auf der Decke, die Haare um ihren Kopf ausgebreitet wie ein Heiligenschein. Ich kitzle sie an den Füßen. Clare kichert und befreit sich wie ein Fisch aus meinen Händen, springt auf, schlägt ein Rad über die Lichtung und grinst mich herausfordernd an, als wollte sie, dass ich sie fange. Ich grinse nur zurück, und so kommt sie wieder zur Decke und setzt sich zu mir.
    »Henry?«
    »Ja?«
    »Durch dich bin ich irgendwie anders.«
    »Ich weiß.«
    Ich wende mich Clare zu und vergesse kurz, wie jung sie ist und wie lange dies alles zurückliegt; ich sehe das Gesicht meiner Frau Clare auf dem dieses jungen Mädchens und weiß nicht, was ich ihr sagen soll, dieser Clare, die alt und jung und anders ist als andere Mädchen, die weiß, dass Anderssein schwer sein kann. Aber Clare scheint keine Antwort zu erwarten. Sie lehnt sich an mich, und ich lege ihr meinen Arm um die Schultern.
    »Clarel« Ihr Vater brüllt den Namen in die Ruhe über der Wiese. Clare springt auf und packt ihre Schuhe mit den Socken.
    »Zeit für die Kirche«, sagt sie, mit einem Mal nervös.
    »Gut. Dann bis bald.« Ich winke ihr zu, und sie lächelt, murmelt Wiedersehen, rennt den Pfad hinauf und ist verschwunden. Ich bleibe noch eine Weile in der Sonne liegen, denke über Gott nach, lese Dorothy Sayers. Ungefähr eine Stunde später bin auch ich verschwunden, und nur eine Decke, ein Buch, ein Kaffeebecher und Kleidung beweisen, dass wir überhaupt da waren.

NACH DEM ENDE
Samstag, 27. Oktober 1984 (Clare ist 13, Henry 43)
     
    Clare: Ich wache unvermittelt auf. Da war ein Geräusch: Jemand rief meinen Namen. Es klang nach Henry. Ich setze mich im Bett auf und horche. Wind und Krähenrufe. Aber wenn es doch Henry war? Ich springe aus dem Bett und laufe los, renne ohne Schuhe nach unten und zur Hintertür hinaus auf die Wiese. Es ist kalt, der Wind weht beißend durch mein Nachthemd. Wo ist Henry? Ich bleibe stehen, sehe mich um, und dort, beim Obstgarten, sind Daddy und Mark in ihrer leuchtend orangefarbenen Jagdmontur, und noch ein Mann ist bei ihnen, sie stehen alle drei da und starren auf etwas, aber dann hören sie mich und drehen sich um, und

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