Die Frau des Zeitreisenden
Jahren, in denen sie elegante, junge und brillante Musiker sind, die alles noch vor sich haben. Sie sind quietschfidel, sie strotzen vor Glück und Freude. Wenn wir uns über den Weg laufen, winken sie mir zu; sie halten mich für einen aus der Nachbarschaft, einen begeisterten Spaziergänger, einen Mann mit einer komischen Frisur, dessen Alter rätselhafterweise schwankt. Einmal hörte ich meinen Vater fragen, ob ich wohl ein Krebspatient sei. Mich wundert immer noch, dass Dad nie die Idee kam, dieser Mann, der sich in den ersten Jahren ihrer Ehe ständig in ihrer Nähe herumdrückte, könnte sein Sohn sein.
Ich sehe meine Mutter und mich. Sie ist schwanger, geht mit mir aus dem Krankenhaus nach Hause, fährt mit mir im Kinderwagen in den Park und setzt sich auf eine Bank, wo sie ihre Partituren auswendig lernt, mir mit kleinen Handbewegungen leise vorsingt, Grimassen zieht und mit Spielsachen vor meinem Gesicht wackelt. Wir gehen Hand in Hand und bewundern Eichhörnchen, Autos, Tauben, alles, was sich bewegt. Sie trägt Leinenmäntel und Slipper mit Caprihosen. Ihr dunkles kurzes Haar umrahmt ein aufregendes Gesicht mit vollen Lippen und großen Augen. Sie verströmt das Flair einer Italienierin, ist jedoch Jüdin. Meine Mom legt auch Lippenstift, Eyeliner, Wimperntusche, Rouge und Augenbrauenstift auf, wenn sie zur Reinigung geht. Dad hingegen ist wie immer - groß, hager, dezente Kleidung, ein Hutträger. Nur sein Gesicht ist außergewöhnlich: Es strahlt eine tiefe Zufriedenheit aus. Sie berühren sich oft, halten Händchen, gehen im Gleichschritt. Am Strand tragen wir alle drei harmonierende Sonnenbrillen, und ich habe einen lächerlichen blauen Hut auf. Wir liegen in der Sonne, dick eingeschmiert mit Babyöl, und trinken Rum, Cola und Hawaii-Punsch.
Die Karriere meiner Mutter steht unter einem Glücksstern. Sie studiert bei Jehan Meck, bei Mary Delacroix, die sie behutsam auf den Weg des Ruhms geleiten; sie singt mehrere kleine, aber glänzende Rollen, die Louis Behaire an der Lyric Opera hellhörig werden lassen. Sie ist die zweite Besetzung für Linea Waverleighs Aida. Dann soll sie die Carmen singen. Andere Häuser werden auf sie aufmerksam, und bald reisen wir durch die Welt. Sie nimmt Schubert für Decca auf, Verdi und Weill für EMI, wir fahren nach London, Paris, Berlin, New York. Ich erinnere mich nur noch an eine endlose Serie von Hotelzimmern und Flugzeugen. Ihr Auftritt im Lincoln Center wird im Fernsehen übertragen; ich sehe ihn mit Gram und Gramps in Muncie. Ich bin sechs und kann es kaum fassen, dass das auf dem kleinen Schwarzweiß-Bildschirm meine Mom ist. Sie singt Madame Butterfly.
Meine Eltern wollen nach dem Ende der Spielsaison 69/70 der Lyric Opera nach Wien ziehen. Dad spielt in der Philharmonie vor. Immer wenn das Telefon klingelt, ist es Moms Manager Onkel Ish oder jemand von einer Plattenfirma.
Ich höre, wie oben an der Treppe die Tür geöffnet wird und ins Schloss fällt, dann langsam herabsteigende Schritte. Clare klopft leise vier Mal, und ich entferne den Stuhl unter dem Türknopf. In ihren Haaren ist noch Schnee, ihre Wangen sind rot. Sie ist siebzehn Jahre alt. Clare umarmt mich und drückt mich aufgeregt an sich.
»Frohe Weihnachten, Henry!«, sagt sie. »Wie schön, dass du da bist!« Ich küsse sie auf die Wange; ihre wuselige Heiterkeit zerstreut mich ein wenig, aber mein Gefühl von Trauer und Verlorenheit bleibt. Als ich ihr über die Haare streiche, halte ich eine kleine Portion Schnee in den Händen, die sofort schmilzt.
»Was ist los?« Clare bemerkt das unberührte Essen, meine niedergeschlagene Stimmung. »Bist du schlecht gelaunt, weil keine Mayo dabei ist?«
»Hey. Sei still.« Ich setze mich auf den kaputten alten Fernsehsessel, und Clare zwängt sich neben mich. Ich lege einen Arm um ihre Schultern. Sie legt ihre Hand auf meinen Innenschenkel, ich nehme sie weg und halte sie fest. Ihre Hand ist kalt. »Hab ich dir schon mal von meiner Mutter erzählt?«
»Nein.« Clare ist ganz Ohr; sie saugt alle autobiographischen Einzelheiten, die ich fallen lasse, begierig auf. Seit die Daten auf der Liste weniger werden und uns eine zweijährige Trennungszeit bevorsteht, ist Clare insgeheim davon überzeugt, dass sie mich in der wirklichen Zeit finden kann, wenn ich ihr nur ein paar Fakten an die Hand liefere. Das kann sie natürlich nicht, weil ich ihr nichts an die Hand liefere, und sie mich folglich nicht findet.
Wir essen jeder ein Plätzchen. »Gut. Vor
Weitere Kostenlose Bücher