Die Frau des Zeitreisenden
Uhr?«
»Gegen sechs. Ich hatte Angst, seine Eltern könnten nach Hause kommen und ihn suchen. Es war nicht einfach, ihn zu befreien. Das Band hat ihm alle Brusthaare ausgerissen.«
»Sehr schön. Haben ihn viele gesehen?«
»Ja, alle. Das heißt, alle Mädchen. Jungs waren nicht dabei, soweit ich weiß.« Die Gänge sind beinahe leer. Wir stehen vor meiner Französischklasse. »Clare«, sagt Ruth, »ich kann gut verstehen, warum du das gemacht hast, was mir aber nicht in den Kopf will ist, wie du das geschafft hast.«
»Ich hatte Hilfe.«
Es klingelt, Ruth erschrickt. »O Gott. Ich bin schon fünfmal hintereinander zu spät zum Turnen gekommen!« Sie entfernt sich, als würde sie von einem starken Magnetfeld abgestoßen. »Erzähl’s mir heute Mittag«, ruft sie noch, als ich mich umdrehe und in Madame Simones Klassenzimmer gehe.
»Ah, Mademoiselle Abshire, asseyez-vous, s’il vousplait.« Ich setze mich zwischen Laura und Helen, die auf einen Zettel schreibt: Gut gemacht. Die Klasse übersetzt Montaigne. Wir arbeiten still, Madame geht durch den Raum und verbessert gelegentlich. Ich habe Mühe, mich zu konzentrieren. Dieser Ausdruck in Henrys Gesicht, nachdem er Jason getreten hatte: Völlig ungerührt, als hätte er ihm eben die Hand gegeben, als würde er an nichts Besonderes denken, und dann seine Sorge, wie ich wohl reagieren würde. In diesem Moment wurde mir klar, dass es Henry Vergnügen bereitet, Jason wehzutun. Ob es dasselbe Gefühl war, das Jason empfand, als er mir wehtat? Aber Henry ist ein guter Mensch. Rechtfertigt das seine Reaktion? War es richtig von mir, ihn zu dieser Sache zu überreden?
»Clare, attendez«, sagt Madame neben mir.
Nach dem Klingeln stürmen wieder alle hinaus. Ich gehe mit Helen. Laura umarmt mich entschuldigend und rennt zu ihrem Musikkurs am anderen Ende des Gebäudes. In der dritten Stunde haben Helen und ich gemeinsam Turnen.
Helen lacht. »Also, verdammt, Mädchen. Ich dachte, ich kann meinen Augen nicht trauen. Wie hast du es geschafft, ihn an den Baum zu fesseln?«
Ich merke schon jetzt, wie mir die Frage auf die Nerven gehen wird. »Ein Freund von mir übernimmt solche Aufträge. Er hat mir geholfen.«
»Und wer ist >er«
»Ein Klient von meinem Dad«, lüge ich.
Helen schüttelt den Kopf. »Du konntest noch nie gut lügen.« Ich muss lächeln, sage aber nichts.
»Henry war’s, oder?«
Ich schüttle den Kopf und lege meinen Zeigefinger auf die Lippen. Inzwischen sind wir bei der Mädchenturnhalle angelangt, und als wir den Umkleideraum betreten, verstummen wie von Zauberhand alle Gespräche. Dann erfüllt leises Gemurmel die Stille. Helen und ich haben unsere Spindschränke in der gleichen Ecke. Ich öffne meinen Schrank, hole die Sportsachen heraus. Ich hatte mir überlegt, wie ich es machen werde. Ich streife Schuhe und Strümpfe ab, ziehe mich bis auf Unterhemd und Slip aus. Einen BH trage ich nicht, weil es noch zu wehtut.
»Hey, Helen.« Ich schäle mich aus dem Hemd, und Helen dreht sich um.
»Das darf nicht wahr sein, Clare!« Die Blutergüsse sehen noch übler aus als gestern, ein paar sind grünlich. Auf meinen Oberschenkeln sind Striemen von Jasons Gürtel. »Oh, Clare.« Helen kommt zu mir, nimmt mich vorsichtig in den Arm. Schweigen hat sich über den Raum gelegt, und über Helens Schulter sehe ich, dass die Mädchen sich alle um uns versammelt haben und uns anstarren. Helen strafft die Schultern, erwidert den Blick der Mädchen und sagt: »Na?«, worauf hinten jemand anfängt zu klatschen, und dann klatschen sie alle, und alle lachen und reden und jubeln. Und ich fühle mich leicht, leicht wie Luft.
Mittwoch, 12. Juli 1995 (Clare ist 24, Henry 32)
Clare: Ich liege im Bett und schlafe schon fast, als ich Henrys Hand auf meinem Bauch spüre und begreife, er ist wieder da. Ich öffne die Augen, und er beugt sich herab und küsst die kleine Brandnarbe von der Zigarette; ich berühre sein Gesicht im düsteren Nachtlicht. »Danke«, sage ich, und er sagt: »War mir ein Vergnügen.« Es ist das einzige Mal, dass wir je darüber reden.
Henry: Clare und ich sind an einem warmen Septembernachmittag im Obstgarten. Insekten summen auf der Wiese in der strahlenden Sonne. Nichts regt sich. Über dem trockenen Gras flirrt die Luft in der Wärme. Wir sind unter einem Apfelbaum. Clare lehnt am Stamm, unter sich ein Kissen, um die Wurzeln abzupolstern. Ich liege ausgestreckt da, mein Kopf in ihrem Schoß. Wir haben gegessen, und die Reste
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