Die Frau des Zeitreisenden
liegen um uns verstreut zwischen abgefallenen Äpfeln. Ich bin schläfrig und zufrieden. In meiner Gegenwart ist es Januar, und Clare und ich streiten gerade. Dieses sommerliche Zwischenspiel ist idyllisch.
Clare sagt: »Ich möchte dich zeichnen, einfach so.«
»Verkehrt herum und schlafend?«
»Entspannt. Du siehst so friedlich aus.«
Warum nicht? »Meinetwegen.« Eigentlich sind wir hier, weil Clare für den Kunstunterricht Bäume zeichnen soll. Sie greift nach ihrem Zeichenblock, balanciert ihn auf den Knien und holt den Kohlestift. »Soll ich mich anders legen?«, frage ich sie.
»Nein, das würde zu viel verändern. So wie eben, bitte.« Träge blicke ich wieder auf die Äste, die sich in bizarren Mustern gegen den Himmel abheben.
Reglosigkeit erfordert Disziplin. Beim Lesen kann ich ziemlich lange in einer Stellung verharren, aber Clare Modell zu sitzen finde ich immer wieder erstaunlich schwer. Auch eine anfangs scheinbar angenehme Pose wird nach etwa fünfzehn Minuten zur Tortur. Ich beobachte Clare und bewege nichts außer den Augen. Sie ist völlig in ihre Zeichnung vertieft. Wenn Clare zeichnet, könnte man meinen, die Welt um sie herum sei verschwunden und es gäbe nur noch sie und das Objekt ihrer Betrachtung. Deswegen lasse ich mich unheimlich gern von ihr zeichnen: Wenn sie mich mit dieser gebannten Aufmerksamkeit ansieht, habe ich das Gefühl, ich bin ihr Ein und Alles. Mit dem gleichen Blick sieht sie mich an, wenn wir miteinander schlafen. Just in diesem Moment schaut sie mir in die Augen und lächelt.
»Bevor ich es vergesse: Aus welcher Zeit kommst du?«
»Januar 2000.«
Sie macht ein langes Gesicht. »Ehrlich? Ich hätte auf etwas später getippt.«
»Warum? Seh ich so alt aus?«
Clare streichelt meine Nase. Ihre Finger wandern über meinen Nasenrücken und die Augenbrauen. »Nein, das nicht. Aber du wirkst glücklich und ruhig, und meistens bist du fertig oder gestresst, wenn du aus 1998, ’99 oder 2000 kommst, und willst mir partout nicht sagen warum. Im Jahr 2001 bist du dann wieder normal.«
»Du hörst dich an wie eine Wahrsagerin«, sage ich lachend. »Mir war nicht bewusst, wie genau du meine Stimmungen verfolgst.«
»Woran sollte ich mich sonst halten?«
»Vergiss nicht, dass ich gewöhnlich in Stresssituationen zu dir komme. Trotzdem sind es nicht nur schreckliche Jahre. Wir erleben auch viele schöne Dinge in dieser Zeit.«
Clare widmet sich wieder ihrer Zeichnung. Sie hat es aufgegeben, mir Fragen nach unserer Zukunft zu stellen. Stattdessen will sie wissen: »Henry, wovor hast du Angst?«
Die Frage überrascht mich, ich muss darüber nachdenken. »Vor Kälte«, antworte ich. »Ich habe Angst vor dem Winter. Ich habe Angst vor der Polizei. Ich habe Angst, dass ich zur falschen Zeit an den falschen Ort reise und von einem Auto angefahren oder zusammengeschlagen werde. Oder dass ich irgendwo in der Zeit strande und nicht mehr zurückkann. Ich habe Angst, dich zu verlieren.«
Clare lächelt. »Wie solltest du mich verlieren? Ich bin doch immer da.«
»Ich fürchte, dass du es irgendwann Leid bist, meine Unzuverlässigkeit hinzunehmen, und dich von mir trennst.«
Clare legt ihr Skizzenbuch beiseite. Ich setze mich auf. »Ich werde mich nie von dir trennen«, sagt sie. »Auch wenn du mich ständig verlässt.«
»Aber ich verlasse dich nie freiwillig.«
Clare zeigt mir die Zeichnung. Ich kenne sie schon, sie hängt zu Hause, neben ihrem Zeichentisch im Atelier. Auf der Zeichnung sehe ich friedlich aus. Clare signiert sie und will das Datum dazuschreiben. »Nein«, sage ich. »Sie ist undatiert.«
»Undatiert?«
»Ich kenne die Zeichnung. Sie hat kein Datum.«
»Gut.« Clare radiert das Datum aus und schreibt stattdessen Meadowlark in die Ecke. »Fertig.« Sie sieht mich verwirrt an. »Kommt es manchmal vor, dass du in deine Gegenwart zurückkehrst und etwas hat sich verändert? Ich meine, wenn ich jetzt das Datum auf die Zeichnung setzen würde? Was würde dann passieren?«
»Ich weiß nicht. Versuch es einfach«, sage ich, nunmehr selbst neugierig geworden. Clare radiert das Wort Meadowlark aus und schreibt 11. September 1988.
»So«, sagt sie, »das war leicht.« Wir sehen uns gedankenverloren an. Clare lacht. »Falls ich gegen das Raum-Zeit-Kontinuum verstoßen habe, ist es nicht sehr offensichtlich.«
»Ich sag dir Bescheid, ob du eben den Dritten Weltkrieg verursacht hast.« Langsam fühle ich mich zittrig. »Ich glaube, ich gehe, Clare.« Sie küsst mich,
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