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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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wahrscheinlich den einzigen Trick angewandt, den er konnte.«
    Clare sieht mich an, sie ist traurig und aufgewühlt. »Und dann...«
    »Mom starb, und ich nicht. Unser Ford wurde vorn zerdrückt, die Lenkradsäule durchbohrte Mom die Brust und ihr Kopf flog durch die Öffnung, wo vorher die Windschutzscheibe war, in den Laster; man fand eine unglaubliche Menge Blut. Der Zahnarzt in der Corvette kam unbeschadet davon. Der LKW-Fahrer stieg aus und wollte nachsehen, was gegen sein Fahrzeug geknallt war, entdeckte Mom, fiel auf der Straße in Ohnmacht und wurde von einem Schulbuschauffeur angefahren, der ihn übersah, weil er auf die Unfallstelle gaffte. Der LKW-Fahrer hatte zwei gebrochene Beine. Unterdessen war ich der Szene zehn Minuten und siebenundvierzig Sekunden lang völlig fern. Ich weiß nicht, wohin ich ging; vielleicht waren es für mich nur eine oder zwei Sekunden. Der Verkehr kam zum Stillstand. Aus drei verschiedenen Richtungen versuchten Krankenwagen zu uns durchzukommen und schafften es erst nach einer halben Stunde. Die Sanitäter rannten zu Fuß herbei. Ich tauchte am Seitenstreifen auf. Die einzige Person, die mich sah, war ein kleines Mädchen auf dem Rücksitz eines grünen Chevrolet Kombi. Sie riss den Mund auf und starrte mich endlos an.«
    »Aber... Henry, du warst doch ... du hast gesagt, du kannst dich nicht erinnern. Und woher willst du das überhaupt wissen? Dass es genau zehn Minuten und siebenundvierzig Sekunden waren?«
    Ich schweige eine Weile und überlege, wie ich es ihr am besten erklären kann. »Du weißt, was Schwerkraft ist, oder? Je größer etwas ist, umso mehr Masse hat es und umso größer ist seine Anziehungskraft. Es zieht kleinere Dinge an, die es dann ständig umkreisen.«
    »Ja...«
    »Der Tod meiner Mutter ... er ist das Entscheidende, alles andere dreht sich um ihn herum... Ich träume davon und reise auch durch die Zeit zu ihm. Immer wieder. Wenn du dort sein und über der Unfallszene schweben könntest, wenn du jede Kleinigkeit, alle Menschen, Autos, Bäume, Schneewehen erfassen könntest - wenn du genug Zeit hättest und dir alles genau ansehen könntest, würdest du mich entdecken. Ich bin in Autos, hinter Büschen, auf der Brücke, in einem Baum. Aus jedem Blickwinkel habe ich den Unfall gesehen und selbst in das spätere Geschehen bin ich verwickelt: Von einer nahe gelegenen Tankstelle aus rief ich am Flughafen an und ließ meinen Vater mit der Botschaft ausrufen, er möge sofort ins Krankenhaus kommen. Ich saß im Wartezimmer und sah, wie mein Vater hereinkommt und mich sucht. Er sieht grau und mitgenommen aus. Ich bin am Seitenstreifen entlanggelaufen und habe gewartet, dass mein junges Ich erscheint, ich habe eine Decke um meine dünnen kindlichen Schultern gelegt. Ich habe in mein kleines verständnisloses Gesicht gesehen und gedacht... ich dachte...« An dieser Stelle muss ich weinen. Clare umarmt mich, und ich weine lautlos an ihrer Brust.
    »Was? Was hast du gedacht, Henry?«
    »Dass ich auch hätte sterben sollen.«
    Wir liegen uns in den Armen. Langsam gewinne ich meine Fassung zurück. Clares Mohairpullover ist ruiniert. Sie geht in die Waschküche und kommt in einer weißen Synthetikbluse zurück, wie Alicia sie immer beim Kammermusikspielen trägt. Alicia ist erst vierzehn, aber schon größer und kräftiger als Clare. Ich sehe Clare an, die vor mir steht, und bedaure sehr, dass ich hier bin und ihr den Weihnachtsabend verderbe.
    »Tut mir Leid, Clare. Ich hatte nicht vorgehabt, meine traurige Geschichte bei dir abzuladen. Ich finde Weihnachten nur sehr ... schwierig.«
    »Ach, Henry! Ich bin so froh, dass du hier bist, und weißt du, mir ist lieber, ich ... na ja, meistens kommst du einfach aus dem Nichts und verschwindest wieder, und wenn ich Dinge aus deinem Leben weiß, wirst du irgendwie ... realer. Auch wenn es schreckliche Dinge sind, ich möchte so viel wie möglich von dir erfahren.«
    Alicia ruft die Kellertreppe herunter nach Clare. Es wird Zeit für sie, in den Kreis der Familie zurückzukehren und Weihnachten zu feiern. Ich stehe auf, wir küssen uns behutsam, und Clare ruft »Komme schon!«, lächelt mich an und rennt dann die Treppe hoch. Ich stelle den Stuhl wieder unter den Türknopf und richte mich auf eine lange Nacht ein.

HEILIGABEND, ZWEI
Samstag, 24. Dezember 1988 (Henry ist 25)
     
    Henry: Ich rufe Dad an und frage ihn, ob ich nach dem Weihnachtsmatineekonzert zum Essen kommen soll. Er ringt sich zu einer halbherzigen Einladung

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