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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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durch, aber zu seiner großen Erleichterung kneife ich. In diesem Jahr wird der offizielle Trauertag der DeTambles an verschiedenen Orten begangen. Mrs Kim besucht ihre Schwestern in Korea; in der Zwischenzeit gieße ich ihre Blumen und leere den Briefkasten. Ich rufe Ingrid Carmichel an und frage sie, ob sie mit mir ausgehen möchte, aber sie erinnert mich kurz angebunden, dass Heiligabend ist und manche Leute eine Familie haben, die sie beehren müssen. Ich blättere mein Adressbuch durch. Alle sind weggefahren oder haben Besuch von Verwandten. Ich hätte zu Gram und Gramps gehen sollen. Dann fällt mir ein, dass sie in Florida sind. Es ist 14.53 Uhr nachmittags, langsam schließen die Geschäfte. Ich kaufe eine Flasche Schnaps bei Al und verstaue sie in meiner Manteltasche. Dann springe ich an der Haltestelle Belmont in die Hochbahn und fahre in Richtung Innenstadt. Es ist ein grauer, kalter Tag. In der halb gefüllten Bahn sind hauptsächlich Eltern mit Kindern, die sich bei Marshall Field’s die Weihnachtsdekoration in den Schaufenstern ansehen und im Water Tower Place letzte Besorgungen machen wollen. An der Randolph Street steige ich aus und gehe in östlicher Richtung zum Grant Park. Auf der Bahnüberführung bleibe ich eine Weile stehen, trinke einen Schluck und schlendere dann zur Eisbahn hinunter, auf der nur einige Pärchen und kleine Kinder Schlittschuh laufen. Die Kinder jagen einander hinterher, laufen rückwärts und fahren Achten. Ich leihe mir ein Paar einigermaßen passende Schlittschuhe aus, binde sie zu und stapfe aufs Eis. Ruhig und ohne viel nachzudenken gleite ich an der Bande entlang. Wiederholung, Bewegung, Gleichgewicht, kalte Luft. Herrlich. Die Sonne geht unter. Ich laufe ungefähr eine Stunde, gebe die Schlittschuhe ab, ziehe meine Stiefel an und mache mich wieder auf den Weg.
    Ich schlendere die Randolph Street entlang in Richtung Westen, dann die Michigan Avenue nach Süden, vorbei am Art Institute. Die Löwen sind mit Weihnachtsgirlanden geschmückt. Ich biege in den Columbus Drive. Der Grant Park ist wie ausgestorben, bis auf die Krähen, die auf dem abendblauen Schnee herumstolzieren und ihre Runden drehen. Die Straßenlampen färben den Himmel über mir orange, über dem See ist er ein tiefes Blau. Am Buckingham Fountain bleibe ich stehen und beobachte, wie die Möwen kreisen, im Sturzflug herabsausen und sich um ein Stück Brot streiten, das ihnen jemand dagelassen hat, bis die Kälte schließlich unerträglich wird. Ein Polizist zu Pferd reitet langsam um den Brunnen und zieht dann gemächlich südwärts.
    Ich gehe weiter. Meine Stiefel sind nicht ganz wasserdicht, und mein Mantel ist, trotz diverser Pullover, zu dünn für die sinkende Temperatur. Mangelndes Körperfett: Von November bis April friere ich fast immerzu. Über die Harrison Avenue gehe ich zur State Street, vorbei an der Pacific Garden Mission, wo sich die Obdachlosen versammelt haben, um ein schützendes Dach und etwas zu essen zu finden. Ich frage mich, was man ihnen wohl vorsetzt und ob es dort, unter dem Dach, so etwas wie Festlichkeit gibt. Es sind kaum Autos unterwegs. Ich habe keine Uhr, schätze aber, es ist gegen sieben. Seit kurzem ist mir aufgefallen, dass sich mein Zeitgefühl von dem anderer Leute unterscheidet, mir scheint die Zeit langsamer zu vergehen. Ein Nachmittag kommt mir manchmal wie ein ganzer Tag vor, eine Fahrt mit der El kann eine lange Abenteuerreise werden. Heute ist endlos. Tagsüber ist es mir einigermaßen gelungen, nicht allzu oft an Mom, an den Unfall, an all das zu denken ... nun aber, auf meinem abendlichen Spaziergang, holt es mich wieder ein. Die Wirkung des Alkohols hat nachgelassen. Fast an der Adams Street angelangt, Überschläge ich im Kopf, wie viel Geld ich bei mir habe, und beschließe, mir ein Essen im Berghoff, einem ehrwürdigen deutschen Restaurant, das für seine Brauerei berühmt ist, zu gönnen.
    Das Berghoff ist warm und laut. Es sind ziemlich viele Leute hier, die essen und herumstehen. Die legendären Berghoff-Kellner sausen geschäftig zwischen Küche und Tischen hin und her. Unter plaudernden Familien und Pärchen stehe ich in der Schlange und taue langsam auf. Schließlich werde ich an einen Tisch etwas weiter hinten im großen Speisesaal geführt. Ich bestelle ein dunkles Bier und einen Teller Entenwurst mit Spätzle. Als das Essen kommt, nehme ich mir Zeit. Ich verputze auch das Brot und stelle fest, dass ich nicht mehr weiß, ob ich mittags etwas gegessen

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