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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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habe. Das ist gut, ich achte auf mich, ich bin also kein Idiot, ich denke daran, abends etwas zu essen. Ich lehne mich im Stuhl zurück und lasse den Blick durch den Raum schweifen. Unter der hohen eichengetäfelten Decke und umgeben von Wandgemälden mit Schiffen speisen Paare mittleren Alters. Nachmittags waren sie einkaufen oder im Symphony Center, und nun reden sie gut gelaunt über die erworbenen Geschenke, ihre Enkel, Flugtickets und Ankunftszeiten, über Mozart. Ich verspüre das Bedürfnis, ins Symphony Center zu gehen, jetzt sofort, aber es gibt kein Abendprogramm. Dad ist wahrscheinlich gerade auf dem Heimweg von der Orchestra Hall. Ich würde mich in den oberen Bereich des obersten Balkons setzen (dort ist die Akustik am besten) und mir Das Lied von der Erde anhören, oder Beethoven, oder etwas ähnlich Un-Weihnachtliches. Nun gut. Vielleicht nächstes Jahr. Plötzlich sehe ich alle Weihnachtsabende meines Lebens hintereinander aufgereiht, sie warten und wollen durchgestanden sein; eine große Verzweiflung durchströmt mich. Nein. Ich wünsche mir kurz, dass die Zeit mich aus diesem Tag herausholen und in einen milderen versetzen möge. Und schon habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich der Trauer entziehen will; wir müssen uns an unsere Toten erinnern, auch wenn es uns verzehrt, und wir letztendlich nur sagen können Es tut mir Leid , bis es banal wird wie Luft. Ich will dieses warme, festliche Restaurant nicht mit Kummer befrachten, an den ich mich bei meinem nächsten Besuch hier mit meinen Großeltern erinnern muss, also zahle ich und gehe.
    Auf der Straße stehe ich unschlüssig da. Nach Hause will ich nicht. Ich will unter Leuten sein, will abgelenkt werden. Plötzlich fällt mir die Get Me High Lounge ein, eine Bar, in der nichts unmöglich ist, eine Zufluchtsstätte für Exzentriker. Genau. Ich gehe zum Water Tower Place, fahre im 66er-Bus die Chicago Avenue entlang, steige an der Damen aus und fahre mit dem 50er in Richtung Norden. Im Bus riecht es nach Erbrochenem, ich bin der einzige Fahrgast. Der Fahrer singt Stille Nacht in einem ruhigen Kirchentenor, und als ich an der Wabansia aussteige, wünsche ich ihm frohe Weihnachten. Beim Fix-It-Laden beginnt es zu schneien, ich fange die großen nassen Flocken mit den Fingerspitzen auf. Ich höre Musik aus der Bar sickern. Die verlassene Bahntrasse ragt im grellen Licht der Natriumdampflampen über der Straße auf. Als ich die Tür öffne, setzt gerade ein Trompeter ein, und der heiße Jazz trifft mich voll ins Herz. Ich tauche ein wie ein Ertrinkender, genau der Zustand, den ich hier erreichen will.
    Ungefähr zehn Leute sind da, einschließlich der Bardame Mia. Drei Musiker - Trompete, Bass und Klarinette - stehen auf der winzigen Bühne, die Gäste sitzen alle an der Bar. Die Musiker spielen ungehemmt, fetzen mit voller Lautstärke wie lärmende Derwische, und im Sitzen, bei genauerem Zuhören, erkenne ich die Melodie von White Christmas. Mia kommt vorbei, sieht mich an, und ich rufe so laut ich kann: »Whiskey Soda!«, worauf sie brüllt: »Hausmarke?«, und ich zurückbrülle: »Ja!«, und sie sich umdreht, um es mir zu mischen. Dann bricht die Musik unvermittelt ab. Das Telefon klingelt, Mia hebt ab und sagt: »Get Me Hiiiiiigh!« Sie stellt den Drink vor mich hin, und ich lege einen Zwanziger auf die Theke. »Nein«, sagt sie in den Hörer. »Ach, verfluuuucht. Du mich auch.« Sie knallt den Hörer in die Gabel, wie man einen Basketball versenkt. Eine Weile sieht Mia ziemlich entnervt aus, dann zündet sie sich eine Pall Mall an und bläst eine große Rauchwolke zu mir. »Oh, Entschuldigung.« Die Musiker trotten zur Theke herüber, sie bringt ihnen Bier. Da sich die Toilettentür auf der Bühne befindet, nutze ich die Pause zwischen den Sets zum Pinkeln. Als ich zurückkomme, steht ein neuer Drink vor meinem Barhocker. »Du musst übersinnliche Kräfte haben«, sage ich zu Mia.
    »Du machst es mir nicht schwer.« Sie knallt ihren Aschenbecher hin, lehnt sich innen an die Bar und überlegt. »Was hast du später vor?«
    Ich gehe meine Möglichkeiten durch. Es stimmt, dass ich ein paar Mal mit Mia nach Hause gegangen bin, sie ist sehr amüsant und alles, aber im Moment bin ich wirklich nicht in Stimmung für flüchtige Frivolitäten. Andererseits ist ein warmer Körper nicht das Schlechteste, wenn man bedrückt ist. »Ich habe vor, mich sinnlos zu betrinken. Woran hattest du gedacht?«
    »Also, wenn du nicht zu hinüber bist, könntest

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