Die Frau des Zeitreisenden
Welt von Schwarzweiß auf Farbe wechselte. Nur sind wir nicht mehr in Kansas.
Vielmehr überqueren wir gerade die Grenze nach Michigan, und da ist eine Raststätte. Ich fahre auf den Parkplatz, wir steigen aus und vertreten uns die Beine. Dann gehen wir in das Gebäude, in dem sich die üblichen Landkarten und Broschüren für Touristen befinden, dazu eine lange Reihe von Münzautomaten.
»Mann«, sagt Henry und geht hinüber, um das viele Junkfood zu besichtigen, danach studiert er die Broschüren. »Hey, wir fahren nach Frankenmuth! >Bei uns ist das ganze Jahr Weihnachten< Mein Gott, eine Stunde dort, und ich würde harakiri machen. Hast du Kleingeld?«
In den Tiefen meiner Tasche finde ich eine Handvoll Münzen, die wir fröhlich für zwei Cola, eine Schachtel Lakritzbonbons und einen Schokoriegel ausgeben. Anschließend gehen wir Arm in Arm durch die trockene kalte Luft zum Wagen zurück, wo wir unsere Cola öffnen und Zucker verzehren. Henry schaut auf meine Uhr. »Was für ein Abstieg. Erst 9.15 Uhr.«
»Komm, in ein paar Minuten ist es schon 10.15 Uhr!«
»Ja, richtig, Michigan ist eine Stunde voraus. Irgendwie surreal.«
Ich blicke zu ihm hinüber. »Alles ist surreal. Ich kann es kaum fassen, dass du endlich meine Familie kennen lernst. Die meiste Zeit habe ich damit zugebracht, dich vor ihr zu verstecken.«
»Nur weil ich dich grenzenlos verehre, lasse ich mich auf das Ganze ein. Ich habe nämlich viel Zeit damit verbracht, Autofahrten zu vermeiden, die Familien meiner Freundinnen nicht kennen zu lernen und Weihnachten nicht zu feiern. Dass ich alles drei gleichzeitig auf mich nehme, ist ein Beweis meiner Liebe.«
»Henry...« Ich drehe mich zu ihm, und wir küssen uns. Aus dem Kuss entwickelt sich langsam etwas mehr, da entdecke ich aus dem Augenwinkel drei vorpubertäre Jungen mit einem großen Hund, die in ungefähr einem Meter Entfernung interessiert Zusehen. Als Henry sich umdreht, um festzustellen, was ich anblicke, grinsen alle drei und heben anerkennend die Daumen. Dann schlendern sie zum Auto ihrer Eltern.
»Übrigens, wie schlafen wir eigentlich bei euch?«
»Oje. Etta rief mich gestern deswegen an. Ich bin in meinem und du im blauen Zimmer, uns trennt also ein langer Flur, und dazwischen sind meine Eltern und Alicia.«
»Und wie verpflichtet fühlen wir uns, diese Trennung einzuhalten?«
Ich starte den Motor, und wir fahren wieder auf die Straße. »Weiß ich nicht, für mich ist es ja das erste Mal. Mark geht immer mit seinen Freundinnen unten in den Freizeitraum, dort vernascht er sie in den frühen Morgenstunden auf dem Sofa, und wir tun alle so, als würden wir nichts merken. Im Notfall können wir immer nach unten in den Leseraum; dort hab ich dich früher manchmal versteckt.«
»Na gut.« Henry sieht eine Weile aus dem Fenster. »Weißt du, im Grunde ist es gar nicht so übel.«
»Was?«
»Fahren. In einem Auto. Auf der Straße.«
»Donnerwetter. Demnächst steigst du noch in ein Flugzeug.«
»Niemals.«
»Paris. Kairo. London. Kyoto.«
»Kommt nicht in Frage. Ich bin sicher, ich würde durch die Zeit reisen, und wie soll ich dann in eine Maschine zurückkommen, die mit 350 Meilen pro Stunde durch die Luft fliegt? Am Ende würde ich wie Ikarus vom Himmel fallen.«
»Im Ernst?«
»Ich habe nicht vor, es auszuprobieren.«
»Könntest du durch die Zeit in diese Städte reisen?«
»Tja. Ich hab da meine eigene Theorie. Allerdings ist es die Spezialtheorie des Zeitreisens von Henry DeTamble und keine allgemeine Theorie.«
»Schon gut.«
»Zunächst glaube ich, es hängt mit dem Gehirn zusammen. In vielerlei Hinsicht ist es wie Epilepsie, denn meistens passiert es, wenn ich gestresst bin, und physikalische Reize wie etwa Blitzlicht können es auslösen. Dinge wie Laufen, Sex und Meditation dagegen erleichtern es mir, in der Gegenwart zu bleiben. Zweitens fehlt mir jede bewusste Kontrolle darüber, wann oder wohin ich gehe, wie lange ich bleibe oder wann ich zurückkehre. Eine Urlaubszeitreise an die Riviera ist also ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem scheint mein Unterbewusstsein eine große Rolle zu spielen, denn ich verbringe viel Zeit in der Vergangenheit, kehre zu interessanten oder wichtigen Ereignissen zurück, und einen großen Teil meiner Zeit nehmen die Besuche bei dir ein, worauf ich mich unglaublich freue. Vorzugsweise suche ich Orte auf, die ich bereits aus der wirklichen Zeit kenne, aber bisweilen finde ich mich auch an einem unverhofften Ort oder in einer
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