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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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nicht klar, dass es so riesig ist. Wie viel Zimmer hat denn das Monstrum?«
    »Vierundzwanzig«, erwidere ich und fahre auf der geschwungenen Auffahrt vors Haus. Etta winkt aus dem Fenster in der Eingangshalle. Ihr Haar ist grauer als bei meinem letzten Besuch, aber ihr Gesicht ist vor Freude gerötet. Noch während wir aussteigen, tastet sie sich vorsichtig die vereisten Stufen herunter, ohne Mantel, in ihrem guten marineblauen Kleid mit dem Spitzenkragen, sie balanciert ihre füllige Figur sorgsam über den empfindlichen Schuhen, und als ich zu ihr renne, um sie unterzuhaken, scheucht sie mich weg, bis sie unten ist, erst dann nimmt sie mich in den Arm und küsst mich (es ist so schön, Ettas Duft nach Hautcreme und Puder einzuatmen), während Henry daneben steht und wartet. »Und wen haben wir denn da?«, sagt sie, als wäre Henry ein kleines Kind, das ich unangemeldet mitgebracht habe. »Etta Milbauer, Henry DeTamble«, stelle ich die beiden vor. Auf Henrys Gesicht ist ein kleines >Oh< zu erkennen, und ich frage mich, wie er sie sich wohl vorgestellt hatte. Etta strahlt ihn an, und wir steigen die Treppe hoch. Sie öffnet die Haustür. Henry fragt mich mit gesenkter Stimme: »Was ist mit unserem Gepäck?«, und ich sage ihm, dass Peter sich darum kümmert. »Wo sind denn alle?«, will ich wissen, worauf Etta entgegnet, dass in einer Viertelstunde gegessen wird, wir sollen unsere Mäntel ausziehen, uns waschen und gleich reingehen. Damit lässt sie uns in der Eingangshalle stehen und geht wieder in die Küche. Ich drehe mich um, ziehe meinen Mantel aus und hänge ihn in den Schrank. Als ich mich wieder zu Henry wende, winkt er jemandem zu. Ich spähe an ihm vorbei und entdecke Nell, die ihr breites, stupsnasiges Gesicht aus der Esszimmertür streckt und grinst, und ich renne auf sie zu, verpasse ihr einen dicken feuchten Kuss, worauf sie mich anlacht und sagt: »Schöner Mann, kleines Mädchen«, dann verzieht sie sich schnell ins andere Zimmer, bevor Henry bei uns ist.
    »Nell?«, rät er, und ich nicke. »Sie ist nicht schüchtern, nur sehr beschäftigt«, erkläre ich ihm. Ich führe ihn die hintere Treppe hinauf in den ersten Stock. »Du schläfst hier.« Ich öffne die Tür zum blauen Schlafzimmer. Er wirft einen Blick hinein und folgt mir durch den Flur. »Und das ist mein Zimmer«, sage ich ängstlich. Henry schlüpft an mir vorbei, bleibt mitten auf dem Teppich stehen, sieht sich um, und ich merke, dass er gar nichts erkennt; nichts in diesem Zimmer kommt ihm bekannt vor, und das Messer der Erkenntnis dringt noch tiefer: Die vielen kleinen Gesten und Souvenirs im Museum unserer Vergangenheit sind wie Liebesbriefe an einen Analphabeten. Henry nimmt ein Zaunkönignest (zufällig das erste von vielen Vogelnestern, die er mir im Laufe der Jahre geschenkt hat) und sagt: »Hübsch.« Ich nicke und setze an, will es ihm erzählen, da legt er das Nest aufs Regalbord zurück und fragt: »Lässt sich die Tür absperren?«, worauf ich sie absperre, und wir zu spät zum Essen kommen.
     
    Henry: Fast gelassen folge ich Clare die Treppe hinunter durch den dunklen kalten Flur und ins Esszimmer. Alle sitzen schon da und haben angefangen. Der Raum mit seiner niedrigen Decke wirkt anheimelnd und gemütlich, wie aus einem Gedicht von William Morrisy; das knisternde Feuer in dem kleinen Kamin wärmt die Luft, und die Fenster sind so mit Frost überzogen, dass man nicht hinaussehen kann. Clare geht zu einer dünnen Frau mit hellroten Haaren, wahrscheinlich ihre Mutter, die ihren Kopf zur Seite neigt, um Clares Kuss zu empfangen, und sich halb erhebt, als sie mir die Hand gibt. Clare stellt sie mir als »meine Mutter« vor, und ich nenne sie »Mrs Abshire«, was sie sogleich zu der Bemerkung veranlasst »Oh, aber Sie müssen mich Lucille nennen, das tun alle«, und sie lächelt erschöpft, aber auf eine herzliche Art, wie eine strahlende Sonne in einer anderen Galaxie. Wir nehmen unsere Plätze gegenüber am Tisch ein. Clare sitzt zwischen Mark und einer älteren Frau, die sich als ihre Großtante Dulcie erweist; ich sitze zwischen Alicia und einer rundlichen hübschen Blondine, die als Sharon vorgestellt wird und offenbar Marks Freundin ist. Clares Vater sitzt an der Stirnseite des Tisches, und mein erster Eindruck sagt mir, dass ich ihn zutiefst verstöre. Mark, gut aussehend und wild, wirkt genauso entnervt. Sie haben mich schon irgendwo gesehen. Ich überlege, was sie veranlasst haben könnte, mich zu erkennen, sich an

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