Die Frau des Zeitreisenden
mich zu erinnen, vor Abneigung ganz leicht zurückzuschrecken, als Clare mich vorstellt. Doch Philip Abshire ist Anwalt, ein Meister seiner Mimik, und nach einer Minute ist er umgänglich und lächelt, ganz Gastgeber, der Dad meiner Freundin, ein Mann mittleren Alters, der eine Glatze bekommt, mit Brille und einem sportlichen Körper, mittlerweile etwas schlaff und dick geworden, aber mit kräftigen Händen, Tennisspielerhänden, grauen Augen, die mich trotz des vertrauensseligen Lächelns weiterhin argwöhnisch begutachten. Mark fällt es nicht so leicht, sein Unwohlsein zu verbergen, und immer wenn ich seinen Blick auffange, schaut er schnell auf den Teller. Alicia hatte ich mir anders vorgestellt, sie ist sachlich und nett, aber ein bisschen sonderbar und geistesabwesend. Sie hat das dunkle Haar von Philip, genau wie Mark, und Lucilles Gesichtszüge, jedenfalls fast; Alicia sieht aus, als hätte jemand versucht, Clare und Mark miteinander zu kreuzen, es dann jedoch aufgegeben und einen Hauch Eleanor Roosevelt beigemischt, um die Lücken zu füllen. Philip sagt etwas, worauf Alicia lacht, und plötzlich wird sie nett, so dass ich mich überrascht zu ihr wende, als sie vom Tisch aufsteht.
»Ich muss nach St. Basil«, klärt sie mich auf. »Zu einer Probe. Kommst du mit in die Kirche?« Ich werfe Clare einen Blick zu, die leicht nickt, und sage zu Alicia »Natürlich«, und alle seufzen vor -was? Erleichterung? Immerhin ist Weihnachten ein christlicher Feiertag und mein eigener, ganz persönlicher Tag der Buße. Alicia verabschiedet sich. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter mich auslachen und ihre perfekt gezupften Brauen hochziehen würde, wenn sie ihren halbjüdischen Sohn inmitten eines Weihnachten in Gotland gestrandet sähe, und im Geist drohe ich ihr mit dem Finger. Du musst reden, sage ich zu ihr. Immerhin hast du einen Episkopalen geheiratet. Ich blicke auf meinen Teller, es gibt Schinken mit Erbsen und einen harmlosen kleinen Salat. Ich esse kein Schwein und hasse Erbsen.
»Clare sagt, Sie sind Bibliothekar«, versucht sich Philip, und ich bestätige ihm, dass es so ist. Wir führen eine lebhafte kleine Unterhaltung über die Newberry und Leute, die dort im Vorstand sitzen und zugleich Klienten in Philips Kanzlei sind, offenbar mit Sitz in Chicago, wobei mir dann nicht ganz einleuchtet, weshalb Clares Familie hier oben in Michigan wohnt.
»Sommerhäuser«, sagt er, und ich erinnere mich, dass Clare mir erzählt hat, ihr Vater sei auf Erbrecht spezialisiert. Ich stelle mir betagte reiche Leute vor, die an ihren Privatstränden liegen, dick eingeschmiert mit Sonnencreme, und beschließen, den Junior aus dem Testament zu streichen und nach ihrem Handy greifen, um Philip anzurufen. Ich entsinne mich, dass Avi, der im Chicago Symphony Orchestra neben meinem Vater sitzt und erste Geige spielt, hier irgendwo in der Umgebung ein Haus besitzt. Als ich das erwähne, spitzen alle die Ohren.
»Sie kennen ihn persönlich?«, fragt Lucille.
»Klar. Er und mein Dad sitzen nebeneinander.«
»Sitzen nebeneinander?«
»Naja, Sie wissen doch. Erste und zweite Geige.«
»Ihr Vater ist Geiger?«
»Ja.« Ich sehe Clare an, die ihre Mutter mit einem Blick bedenkt, der besagt, blamier mich bitte nicht.
»Und er spielt im Chicago Symphony Orchestra?«
»Ja.«
Lucilles Gesicht ist von Röte überzogen; nun weiß ich, woher Clare ihr Erröten hat. »Meinen Sie, er würde sich anhören, wie Alicia spielt? Wir könnten ihm ein Band geben.«
Ich kann nur hoffen, dass Alicia sehr, sehr gut ist, denn meinem Vater werden ständig Bänder zugesteckt. Aber mir fällt etwas Besseres ein.
»Spielt Alicia nicht Cello?«
»Ja.«
»Sucht sie zufällig einen Lehrer?«
Philip wirft ein: »Sie studiert bei Frank Wainwright in Kalamazoo.«
»Ich könnte nämlich Yoshi Akawa die Kassette geben. Einer seiner Schüler ist gerade nach Paris gezogen, hat dort ein Engagement angenommen.« Yoshi ist ein prima Mensch und spielt das erste Cello. Er würde sich das Band bestimmt anhören; mein Dad dagegen, der nicht unterrichtet, würde es einfach wegwerfen. Lucille ist ganz euphorisch, und sogar Philip macht einen zufriedenen Eindruck. Clare wirkt erleichtert. Mark isst. Großtante Dulcie, winzig und mit rosanen Haaren, hat nichts von dem ganzen Wortwechsel mitbekommen. Ob sie taub ist? Sharon, die zu meiner Linken sitzt, hat bisher noch kein Wort gesagt. Sie sieht elend aus. Philip und Lucille diskutieren, welches Band sie mir mitgeben oder
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