Die Frau des Zeitreisenden
unbekannten Zeit wieder. Ich reise häufiger in die Vergangenheit als in die Zukunft.«
»Du warst in der Zukunft? Ich wusste gar nicht, dass du das kannst.«
Henry wirkt ungemein zufrieden mit sich. »Meine Spannbreite umfasst etwa fünfzig Jahre in jede Richtung. Aber ich reise nur selten in die Zukunft, und bislang habe ich dort nichts gefunden, was ich nützlich fand. Außerdem sind meine Ausflüge meist sehr kurz. Und vielleicht verstehe ich auch nicht so recht, was ich dort sehe. Die Vergangenheit dagegen übt eine große Faszination aus. In der Vergangenheit fühle ich mich sicherer. Vielleicht ist die Zukunft an sich weniger substantiell. Keine Ahnung. In der Zukunft habe ich immer das Gefühl, als würde ich dünne Luft atmen. Daran erkenne ich mitunter überhaupt, dass es sich um die Zukunft handelt. Außerdem fällt mir das Laufen dort schwerer.« Henry wirkt nachdenklich, und mit einem Mal kann ich mir vage vorstellen, wie beängstigend es sein muss, sich in einer fremden Zeit, an einem unbekannten Ort zu befinden, ohne Kleidung, ohne Freunde.
»Deswegen sind deine Füße...«
»Wie Leder.« An Henrys Füßen wächst eine dicke Hornhaut, wie wenn sie Schuhe ersetzen wollte. »Ich bin ein Huftier. Sollte meinen Füßen irgendwann mal etwas zustoßen, kannst du mich genauso gut erschießen.«
Eine Weile fahren wir stumm weiter. Die Straße steigt an und fällt ab, öde Felder mit Maisstoppeln sausen vorbei. Bauernhäuser stehen verwaschen in der Wintersonne, vor jedem parken Lieferwagen, Pferdeanhänger und amerikanische Autos auf der langen Auffahrt. Ich seufze. Nach Hause zu kommen ist für mich mit gemischten Gefühlen verbunden. Ich kann es kaum erwarten, Alicia und Etta zu sehen, und meine Mutter macht mir Sorgen, während ich auf meinen Vater und Mark gut verzichten könnte. Aber ich bin neugierig, wie sie auf Henry reagieren, und er auf sie. Es macht mich stolz, dass ich ihn so lange geheim halten konnte. Vierzehn Jahre. Wenn man Kind ist, sind vierzehn Jahre eine Ewigkeit.
Wir kommen an einem Wal-Mart vorbei, einem Dairy Queen, McDonald’s. Und wieder Maisfelder. Ein Obstgarten. Erdbeeren und Blaubeeren zum Seiberpflücken. Im Sommer ist diese Straße ein langer Korridor aus Obst, Getreide und Kapitalismus. Nun aber sind die leeren Felder vertrocknet, und die Autos jagen auf der sonnigen kalten Straße entlang und übersehen die einladenden Parkplätze.
Bevor ich nach Chicago zog, machte ich mir nie viel Gedanken über South Haven. Unser Haus, das außerhalb der südlichen Stadtgrenze liegt, erschien mir immer wie eine Insel, umgeben von der Wiese, Obstgärten, Wald und Farmen. South Haven war einfach die Stadt, wie man eben sagt, gehen wir in der Stadt ein Eis essen. Die Stadt, das waren Lebensmittelgeschäfte und Eisenwaren und Mackenzies Bäckerei und die Notenblätter und Platten im Music Emporium, Alicias Lieblingsladen. Wir standen oft vor dem Fotostudio Appleyard und dachten uns Geschichten über die Bräute und Kleinkinder und Familien aus, die hässlich aus dem Schaufenster lachten. Wir fanden nicht, dass die Bücherei in ihrer imitierten griechischen Pracht komisch aussah, dass die Küche in der Region beschränkt war und fad schmeckte, oder dass die Filme im Michigan Theater gnadenlos amerikanisch und geistlos waren. Zu diesen Ansichten gelangte ich erst später, als ich Einwohnerin einer Großstadt wurde, eine freiwillig im Exil Lebende und ängstlich darauf bedacht, die ländlichen Gepflogenheiten ihrer Jugend abzustreifen. Plötzlich sehne ich mich nach dem kleinen Mädchen, das ich einstmals war, das die Felder liebte und an Gott glaubte, das die Wintertage, an denen es krank war und nicht zur Schule ging, zu Hause verbrachte und Mentholhustenbonbons lutschend Nancy Drew las, das Mädchen, das ein Geheimnis bewahren konnte. Ich schaue zu Henry hinüber und stelle fest, er ist eingeschlafen.
South Haven, achtzig Kilometer.
Vierzig, zwanzig, zwei.
Phoenix Road.
Blue Star Highway.
Und dann: Meagram Lane. Ich greife nach Henry und will ihn wecken, aber er ist schon wach. Er lacht nervös und blickt aus dem Fenster auf den endlosen Tunnel aus kahlen Winterbäumen, an denen wir vorbeirasen, und als das Tor in Sicht kommt, stöbere ich im Handschuhfach nach dem Öffner, die Torhälften teilen sich und wir fahren durch.
Das Haus erscheint wie eine Hochklappfigur in einem Bilderbuch. Henry schnappt nach Luft und fängt an zu lachen.
»Was denn?«, sage ich defensiv.
»Mir war
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