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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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zu schauen, junger Mann. Unter der Kruste schmort der saftigste Truthahn der Welt.«
    Das glaube ich ihr gern, der Duft ist berauschend. »Was ist ein Thompson-Truthahn?«, frage ich, und Nell hält mir einen Vortrag über die wunderbaren Eigenschaften des Thompson-Truthahns, erfunden von Morton Thompson, einem Zeitungsverleger, in den 1930er Jahren. Anscheinend erfordert die Zubereitung dieses herrlichen Bratens eine Menge Füllung, Bestreichen und Wenden. Nell erlaubt mir, in der Küche zu bleiben, während sie Kaffee kocht und den Truthahn aus dem Herd holt, ihn mühevoll auf den Rücken dreht und dann überall raffiniert mit Cidresauce beträufelt, bevor sie ihn wieder in die Röhre schiebt. In einer großen, mit Wasser gefüllten Plastikwanne neben der Spüle krabbeln zwölf Hummer. »Haustiere?«, ziehe ich sie auf, und sie erwidert: »Das ist Ihr Weihnachtsschmaus, junger Mann. Wollen Sie sich einen raussuchen? Oder sind Sie vielleicht Vegetarier?« Mitnichten, versichere ich ihr, ich sei ein braver Junge, der isst, was man ihm vorsetzt.
    »Dafür sind Sie aber ganz schön mager«, sagt Nell. »Na, ich werde Sie schon mästen.«
    »Deswegen hat Clare mich mitgebracht.«
    »Soso«, sagt Nell sichtlich erfreut. »Na schön. Aber jetzt raus mit Ihnen, ich hab hier noch zu tun.« Mit einem großen Becher duftenden Kaffees in der Hand begebe ich mich ins Wohnzimmer, in dem ein gewaltiger Christbaum steht und ein Feuer brennt. Es sieht aus wie eine Werbung für Pottery Barn. Ich mache es mir in einem orangen Ohrensessel am Kamin bequem und gehe den Zeitungsstapel durch, als jemand sagt: »Woher hast du den Kaffee?« Ich blicke auf und sehe Sharon, die mir gegenüber in einem blauen Sessel sitzt, der genau zu ihrem Pullover passt.
    »Hallo«, sage ich. »Tut mir Leid...«
    »Schon gut«, erwidert sie.
    »Ich war in der Küche, aber ich glaube, wir sollen die Klingel benutzen, wo immer die ist.« Wir überfliegen das Zimmer und tatsächlich, in der Ecke ist ein Klingelzug.
    »Hier ist alles so schräg«, sagt Sharon. »Seit gestern sind wir jetzt da, und die ganze Zeit schleiche ich nur herum, verstehst du, hab Angst, die falsche Gabel zu benutzen oder so...«
    »Woher kommst du?«
    »Aus Florida.« Sie lacht. »Bevor ich nach Harvard ging, hatte ich noch nie weiße Weihnachten erlebt. Mein Dad hat eine Tankstelle in Jacksonville. Nach dem Studium wollte ich eigentlich wieder zurück, weißt du, ich mag nämlich die Kälte nicht, aber jetzt sitz ich wohl fest.«
    »Wie das?«
    Sharon macht ein erstauntes Gesicht. »Haben sie euch nichts erzählt? Mark und ich wollen heiraten.«
    Ich frage mich, ob Clare davon weiß; immerhin hört es sich wichtig genug an, dass sie es mir gesagt hätte. Dann bemerke ich den Diamant an Sharons Finger. »Herzlichen Glückwunsch.«
    »Hoffentlich. Ich meine, vielen Dank.«
    »Bist du dir nicht sicher? Mit dem Heiraten?« Genau genommen sieht Sharon aus, als ob sie geweint hätte, um die Augen ist sie ganz verquollen.
    »Na ja, ich bin schwanger. Deshalb...«
    »Aber das muss doch nicht unbedingt eine...«
    »Tut es aber. Wenn man katholisch ist.« Sharon lässt sich seufzend in den Sessel fallen. Ich kenne einige katholische Mädchen, die eine Abtreibung hatten und trotzdem nicht vom Blitz erschlagen wurden, aber Sharons Glaube ist offenbar weniger entgegenkommend.
    »Na egal, herzlichen Glückwunsch. Und wann...?«
    »Am elften Januar.« Als sie meine überraschte Miene sieht, sagt sie: »Ach, du meinst das Baby. Im April.« Sie verzieht das Gesicht. »Hoffentlich kommt es in den Frühjahrsferien, weil ich sonst nicht weiß, wie ich es schaffen soll... nicht dass es jetzt noch wichtig wäre...«
    »Was studierst du?«
    »Medizin. Meine Eltern toben. Sie beknien mich, es zur Adoption freizugeben.«
    »Mögen sie Mark nicht?«
    »Sie haben ihn noch nicht mal kennen gelernt, nein, daran liegt es nicht, sie haben nur Angst, dass ich nicht fertig studiere und alles umsonst war.« Die Haustür wird geöffnet, die Skifahrer kommen zurück. Ein kalter Luftschwall dringt bis ins Wohnzimmer und weht über uns hinweg. Das tut gut, und ich merke, dass ich hier am Feuer geröstet werde wie Nells Truthahn. »Wann gibt’s Abendessen?«, frage ich Sharon.
    »Um sieben, aber gestern Abend traf man sich hier vorher zum Aperitif. Mark hatte es seinen Eltern gerade verkündet, und sie sind mir nicht gerade um den Hals gefallen. Ich meine, sie waren nett, verstehst du, manche Leute können ja zugleich nett

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