Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb (German Edition)
Evas Zimmer betraten, wurde Poppy von einer Reihe vorwurfsvoller Gesichter empfangen. Doch solche Situationen kannte sie zur Genüge. »Nur nichts anmerken lassen«, sagte sie sich.
Eva tätschelte die Bettkante und sagte: »Setz dich, Paula. Du brauchst nicht mehr zu lügen. Wir wissen, wer du bist. Wir wissen, dass deine Eltern leben.« Sie hielt ein Blatt Papier hoch. »Hier steht, dass deine Mutter am 22. Dezember auf dem Arbeitsamt war und um ein Notdarlehen gebeten hat, weil sie Geld für Weihnachten brauchte. Deine Mutter ist doch Claire Theresa Maria Gibb, nicht? Übrigens, heißt du Poppy oder Paula?«
»Poppy«, sagte das Mädchen mit einem schiefen, nervösen Lächeln. »Bitte nennen Sie mich nicht Paula. Bitte. Nennen Sie mich nicht Paula. Ich habe mir einen neuen Namen gegeben. Nennen Sie mich nicht Paula.«
Eva nahm ihre Hand und sagte: »Okay. Du heißt Poppy. Warum versuchst du nicht einfach, du selbst zu sein?«
Poppys erster Impuls war, so zu tun, als würde sie weinen und schluchzen: »Aber ich weiß nicht, wer ich bin!« Dann wurde sie neugierig: Wer war sie? Sie würde versuchen, die Kleinmädchenstimme abzulegen, dachte sie. Als ihr Blick auf das ausgefranste 50er-Jahre-Abend- kleid fiel, kam es ihr plötzlich gar nicht mehr so charmant exzentrisch vor wie die Secondhand-Klamotten bei Helena Bonham Carter. Und ihre schweren Stiefel mit den absichtlich offenen Schnürsenkeln verliehen ihr nicht länger »Charakter«. Sie wechselte den Gang in ihrem Gehirn auf Leerlauf und wartete ein paar Sekunden, wohin sie das führte. Sie sagte, ihre neue Stimme testend: »Kann ich bleiben, bis die Uni wieder losgeht, bitte?«
Brianne und Brian junior sagten einstimmig: »Nein!«
Eva sagte: »Ja, du kannst bleiben, bis das Semester anfängt. Aber das sind die Hausregeln. Erstens: Keine Lügen mehr.«
Poppy wiederholte: »Keine Lügen.«
»Zweitens, kein Faulenzen auf dem Sofa in Unterwäsche. Und drittens: Nicht mehr stehlen.«
Brianne sagte: »Gestern Abend habe ich unsere Eieruhr in ihrer Tasche gefunden.«
Poppy setzte sich neben Alexander, der sagte: »Du bekommst gerade eine Riesenchance. Verbock’s nicht.«
Brianne sagte: »Das ist also alles? Ihr wird einfach so verziehen?«
»Ja«, sagte Eva. »So wie ich Dad verziehen habe.«
Stanley hob die Hand und fragte: »Darf ich auch etwas sagen?« Er sah Poppy an. »Ich bin kein sehr versöhnlicher Mensch, und ich kann dir nicht sagen, wie sehr mich deine Hakenkreuz-Tätowierung ärgert und betrübt. Es lässt mir keine Ruhe. Ich weiß, du bist jung, aber dir muss doch bewusst sein, wofür das Hakenkreuz steht. Und bitte erzähl mir nicht, deine faschistische Tätowierung steht für einen Hindu-Gott oder irgend so einen Quatsch. Du und ich, wir wissen beide, dass du das Hakenkreuz gewählt hast, weil du entweder ein Nazi bist oder weil du deine Entfremdung von unserer größtenteils anständigen Gesellschaft demonstrieren wolltest, um zu schockieren. Du hättest auch eine Schlange wählen können, eine Blume, einen Hüttensänger, aber du hast dich für das Hakenkreuz entschieden. Ich habe zu Hause eine Videosammlung über den Zweiten Weltkrieg. Eines dieser Videos zeigt die Befreiung des Konzentrationslagers Belsen. Hast du von Belsen gehört?«
»Da ist Anne Frank gestorben. Das hatte ich in meiner Abschlussprüfung.«
Stanley fuhr fort: »Als die alliierten Truppen die Gefangenen befreien kamen, fanden sie skelettartige, halbtote Wesen, die um Essen und Wasser flehten. Eine große Grube wurde entdeckt, voll mit Leichen. Grauenhafterweise waren einige noch am Leben. Ein Bulldozer …«
Ruby rief: »Es reicht, Stanley!«
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht …« Er wandte sich wieder an Poppy. »Wenn du das Video sehen möchtest, bist du herzlich eingeladen, dann sehen wir es uns gemeinsam an.«
Poppy schüttelte den Kopf.
Es herrschte Schweigen.
Schließlich sagte Poppy: »Ich lasse es entfernen, weglasern. Ich verehre Anne Frank. Hab vergessen, dass sie Jüdin war. Ich hab geweint, als die Nazis sie auf dem Dachboden gefunden haben. Ich hab mir das Tattoo mit vierzehn nur machen lassen, weil ich in einen Jungen verknallt war, der Hitler toll fand. Er hatte einen Koffer unter seinem Bett, voll mit Dolchen und Orden und so. Er hat mir erzählt, Hitler war Tierliebhaber und Vegetarier und wollte der Welt nur Frieden bringen. Wenn wir in seinem Zimmer waren, wollte er, dass wir uns Adolf und Eva nennen.«
Alles sahen Eva an, die sagte:
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