Die Frau die nie fror
Wohnung in der Salem Street aufgegeben, da er einen weiteren Zusammenstoß mit Johnny und seinen Jungs vermeiden wollte. Er hat auch eine andere Telefonnummer. Nun ist er in einem schäbigen Wohnheim in Charlestown, sagt er entschuldigend. Ein vorübergehender, schnell zu organisierender Unterschlupf, man braucht kein Auto, um dorthin zu gelangen, erklärt er. Seine leichte Verlegenheit wegen der billigen Bude hat einen gewissen Charme.
Ich eröffne ihm, dass ich mit Caridad Jaeger gesprochen habe. »Sie hat mir alles erzählt.«
Schweigen. »Können Sie morgen früh vorbeikommen?«
Mir fällt mein Job ein. »Morgen nach der Arbeit«, sage ich.
*
Es ist ein riesiges altes Haus, früher großzügig und elegant, heute aufgeteilt und glanzlos wie eine Moskauer Villa nach Übernahme durch die Bolschewiken. Der Manager trägt einen gelben Turban und sitzt hinter einem vergitterten Fenster in einem kleinen Raum. Er arbeitet mit einem Bleistiftstummel an einem Kreuzworträtsel, während in einem alten Fernseher ein aufgeblasener Talkshow-Gastgeber eine vernichtende Kritik ablässt. Ich will ihn gerade ansprechen, als am Rande meines Blickfelds eine Gestalt auftaucht. Es ist Parnell, der sich lautlos wie eine Katze bewegt. Wortlos führt er mich durch einen Hintereingang, über einen Parkplatz zu einem Diner die Straße hinunter. Wir setzen uns in eine Nische im hinteren Teil des Lokals. Klebriges rotes Vinyl, Risse mit Klebeband geflickt. An der Theke hocken zwei bullige Typen und eine Asiatin in einem roten Wollmantel. Die Kellnerin kommt herüber, wir bestellen zwei Kaffee, und sie verzieht sich wieder.
Parnell platzt damit heraus, dass er sich eine Schusswaffe gekauft hat. Schiebt sie nachts unter sein Kopfkissen, trägt sie tagsüber in einem Halfter am Knöchel. Er sagt, es sei eine .38er Colt Mustang mit einer Gesamtlänge von rund dreizehn Zentimetern. Mit vollem Magazin wiegt sie unter einem Pfund. Er zuckt gleichgültig mit den Schultern, räumt ein, dass diese Details eigentlich unwichtig sind; er macht nur Konversation. Doch seine Ausstrahlung hat eine neue Schärfe gewonnen: Bartstoppeln lassen die untere Hälfte des Gesichts dunkler erscheinen, und in seinen Augen liegt ein wild entschlossener Blick. Er hat keine Erfahrung mit solchen Situationen, und das weiß er auch.
Neugierig frage ich, ob ich die Waffe mal sehen könne.
Er neigt den Kopf, und ich gehe auf der Sitzbank in die Waagerechte. Unter dem Tisch zieht er sein Hosenbein hoch. Die Waffe ist schwarz und silbern und so klein, dass sie wie ein Spielzeug aussieht.
Ich setze mich wieder auf. Ich will sagen: Machen Sie sich keine zu großen Sorgen. Ich kenne John Oster. Er ist kein Killer. Ein Arschloch, ja. Ein abgefuckter Irrer, ja. Steht drauf, außer der Reihe skrupellos Wale im Nordatlantik zu jagen wie Ahab, ja. Aber ein Mörder ist er nicht. Das will ich sagen. Aber ich weiß nicht, ob ich damit recht habe.
Die Kellnerin bringt unseren Kaffee. Wir nehmen ihn beide schwarz, also haben unsere drei gesunden Hände nichts zu tun. Mein Blick wandert zu den Fingern von Parnells linker Hand, die sich um den Porzellanbecher legen. Beinahe ist es zu intim, sie anzusehen. Eine Hand mit lebendigen Fingern, eine Hand, die anfassen kann. Ich reiße ein Zuckertütchen auf, dann noch eines.
»Wir brauchen Beweise«, sage ich.
Er stockt nicht bei dem Plural, setzt ihn aber auch nicht fort. »Ja, ich weiß. Aber wie komme ich da ran? Das ist der Punkt, wo es hakt. Ich brauche Orte und Daten. Alles, sämtliche Akteure, die ganze Geschichte. Bislang habe ich gar nichts.«
»Irgendwer muss an Bord der Sea Wolf.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Aber die wissen jetzt, wer ich bin.« Er fügt nicht hinzu, dass er wegen seiner Hand ohnehin ausscheidet.
»Ich mache das.«
»Was? Sie?«
»Warum nicht?« Ich schiebe den verstreuten Zucker zu einem kleinen Haufen zusammen.
Er sieht wenig erfreut und verlegen aus. »Sie sind kein Fischer.«
»Ich hab schon Hummer gefischt, oder? Ich denke, ich bin bereit für einen größeren Fang.« Ich versuche, den Zucker in meine Hand zu schieben, aber das meiste fällt auf den Boden.
»Die werden Sie nie an Bord lassen.«
»Klar tun sie das. Es gibt ein paar Frauen auf den Schiffen.«
»Sie haben aber keinerlei Qualifikationen.« Ein kühles Funkeln in seinem Auge. Er glaubt, jetzt hat er mich.
»Ich kann kochen.« Irgendwie. »Und die Verarbeitung kann ja auch nicht so schwer sein.«
»Ich bitte
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