Die Frau die nie fror
nicht wissen, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was darauf zu sehen ist. Also können Sie, falls ich nicht zurückkommen sollte, die Fotos veröffentlichen, wenn Sie schlau draus geworden sind!«
Parnell schüttelt den Kopf über meinen unangebrachten Enthusiasmus, presst die Lippen schmollend aufeinander. Er wirkt wie ein zerknautschter Junge, der unfairerweise nicht zur Little League darf und sich stattdessen das Spiel der Mädels ansehen muss. Er gibt mir seine neue Nummer und starrt mürrisch auf den Bildschirm seines Telefons, bis meine Nachricht im Posteingang auftaucht.
»Ach, und noch was – Ned hat Noah ein Stück Walknochen geschenkt und ihm erzählt, er hätte Wale gejagt.«
Zum ersten Mal an diesem Tag leuchten Parnells Augen vor Aufregung. »Okay, jetzt haben wir was. Rizzo dachte eine Weile, es wäre ein Mordsspaß, mit reichen Typen auf Walfang zu gehen. Dann hat er aus irgendeinem Grund seine Meinung geändert und hat versucht auszusteigen. Was Dustin Hall gar nicht gefiel. Er musste Jaeger zufriedenstellen und konnte sich eine undichte Stelle nicht leisten. Wahrscheinlich hat er versucht, Rizzo zum Bleiben zu überreden. Vielleicht hat Rizzo gedroht, zu den Behörden zu gehen, oder auch nicht. Auf jeden Fall hat Hall ihm die Molly Jones gegeben, um ihn zum Schweigen zu bringen, und dann hat er ihn auf ihr umgebracht.«
»Ich bin Ihrer Meinung, mit der Ausnahme des letzten Teils.«
»In Ordnung«, sagt er schnell. »Wir werden das vorläufig als offene Frage so stehenlassen.«
»Das sind alles offene Fragen.«
»Sie gehen wirklich, stimmt’s?« Er ist perplex, kennt mich aber inzwischen schon gut genug.
Plötzlich ist uns der Gesprächsstoff ausgegangen. Ich bemerke, dass ich mich nicht verabschieden will. Ich möchte lieber noch ein oder zwei Stunden mit ihm verbringen, vielleicht irgendwo in einem Park spazieren gehen, eine zwanglose, frei flottierende Unterhaltung führen, wie Menschen sie eben haben, wenn sie sich kennenlernen. Aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken.
»Sie sollten vor mir gehen, damit man uns nicht zusammen auf der Straße sieht«, sage ich.
Er starrt mich an und fügt sich dann, abrupt und wortlos.
Kaum ist er weg, da wünsche ich mir schon, ich hätte ihn nicht weggeschickt. Seine Kaffeetasse ist noch halbvoll. Und ich bin allein. Warum bin ich so oft allein? Aber auch darüber kann ich jetzt nicht nachdenken.
Ich gebe der Kellnerin ein Zeichen. Bestelle den Truthahn Spezial mit extra Preiselbeeren und Soße. Die Asiatin steht auf und beginnt, ihren roten Mantel zuzuknöpfen. Jetzt sitzt nur noch ein bulliger Mann an der Theke. Ich habe den anderen nicht gehen sehen, was mich beunruhigt. Ich muss anfangen, besser auf solche Dinge zu achten. Auf alles.
*
Eine dunkle, ruhige Lounge im Erdgeschoss eines Hotels. Die Flammen kleiner Kerzen flackern auf niedrigen Tischen. Keine Musik, dicke Teppichböden, eine perfekte Raumtemperatur von etwa zwanzig Grad. Eine Handvoll Männer und Frauen in dunklen Anzügen und Kostümen verteilt im Raum, sie schlürfen Cocktails nach der Arbeit. Eine gehobene Kneipe im Herzen des Bankenviertels ist so ziemlich der letzte Ort, an dem man den Oyster Man vermuten würde. Vielleicht hat er ihn gerade deshalb ausgesucht.
In diesem Licht verblasst sein rotes Haar zu goldbraun. Er trägt eine frische Jeans mit Ledergürtel, hat das schwarze T-Shirt hineingestopft. So macht er sich fein. Über der Lehne eines benachbarten Stuhls liegt ordentlich gefaltet eine Nylonjacke. Die Hand hat er um eine Flasche Amstel Light geschlossen.
»Ich achte aufs Gewicht«, erklärt er, als er meinen Blick auf die Flasche bemerkt. Sein Gesicht rötet sich, als er sich selbst hört. So reif. Ist er ein Langweiler geworden? Haben die Windeln, die Makkaroni mit Käse und die Skateboards im Flur seine männliche Arroganz auf dem Gewissen? Er lehnt sich in dem Polsterstuhl zurück. Lächelt unfroh, schlägt die Beine übereinander. Sagt, er freut sich, dass ich angerufen hab. Aber diesmal meint er es nicht so. Er blinzelt viel zu viel, und sein Gesicht ist völlig ausdruckslos.
Mein Bauch sagt mir, ich sollte besser sofort umdrehen und durch die noblen Türen des Hotels verschwinden. Aber ich setze mich und höre, wie ich bei der Kellnerin ruhig ein Glas Mineralwasser mit Kohlensäure bestelle. Vielleicht bin ich einfach zu stur, um die Warnungen meines Bauches zu beachten. Ich habe nur ein Blatt in der Hand, und das werde ich spielen. Das
Weitere Kostenlose Bücher