Die Frau die nie fror
Angelegenheit zu sein.
Ich mache Toast und schenke Orangensaft ein. Während er isst, erfinden wir eine Geschichte über einen Gnu-Jungen. Der Plot umfasst tolle Figuren und Situationen, die auf der Reihe zu behalten ich so meine Probleme habe. Altmodisch, wie ich bin, erwarte ich, dass die Geschichte damit endet, dass der Gnu-Junge reich wird wie ein Scheich und das attraktivste Gnu-Mädchen heiratet, doch Noah lenkt den Plot in eine andere Richtung. Das Gnu baut eine riesige Maschine, die »alles« kann – also eine Menge Kriegführung und ein bisschen Bergbau. Er zeichnet sie. Das Ding hat stählerne Arme und Beine, integrierte Winden, Antennen und einen quadratischen Roboterkopf. So eine Maschine ist für mich der reinste Horror, für Noah aber ein Höhepunkt der Evolution. Wahrscheinlich stellt er sich vor, er stecke selbst darin, unüberwindbar.
Thomasina kommt mit sittsam gesenktem Blick. Sie trägt ihr voluminöses schwarzes Cape. Noah umarmt sie glücklich und erzählt ihr aufgeregt vom After der Zibetkatze. Sie lächelt, tätschelt seinen Kopf, sagt nicht viel. Ich werde sie später anrufen, um ihr von Max und Johnny und den Aufnahmen zu erzählen, die Ned auf Noahs Telefon geschickt hat. Vielleicht wird es sie trösten, dass ihr Ex-Freund ein zwielichtiges Arschloch ist.
Wir bestellen Chinesisch, lassen es uns bringen und teilen die Rechnung. Noah ist begeistert, weil es Sonntagmorgen ist und das kein normales Frühstück ist. Thomasina drückt dem freudestrahlenden Lieferjungen ein fettes Extra-Trinkgeld in die Hand. Die Geste verärgert mich, aber ich schenke es mir, darüber nachzudenken, warum eigentlich.
Kapitel 21
S eit zehn Minuten stehe ich im kleinen Flur des Hauses 180 Salem Street und drücke auf die Klingel von Nummer 4. Jetzt müsste ich nur noch einsehen, dass er nicht zu Hause ist. Aber ich bin den ganzen Weg hergekommen, und ich will ihn unbedingt treffen. Also drücke ich wieder. Immer noch keine Reaktion. Sein Telefonanschluss funktioniert nicht mehr. Wenn er eine neue Nummer hat, warum lässt er mich das nicht wissen? Ich gehe auf dem Marmorboden auf und ab, nicht bereit aufzugeben. Die schwere Glastür zur Straße sperrt alle Geräusche aus. Autos gleiten lautlos vorbei, wie Fische in einem Aquarium. Ein undeutliches Bild steigt in mir auf – von Russell Parnell, der mitten in der Nacht durch dieses Foyer geschleift, zu einem verlassenen Grundstück hinter einer stillgelegten Fabrik gebracht, zu Brei geschlagen und schließlich ins Hafenbecken geworfen wird.
Ich stoße meinen Daumen auf den Klingelknopf und lehne mich dagegen, als würde dieser zusätzliche Druck irgendetwas bewirken. Ich drücke ein Morsealphabet-Kauderwelsch – lang, lang, kurz, lang, kurz. Etwa eine Minute später beruhige ich mich wieder.
Vier filigrane Briefkästen aus Messing sind in die Wand eingelassen. Sie sind so alt, dass die Kanten der Briefschlitze – von all der Post, die durch sie hindurchgeworfen wurde – einen matten Goldton haben. Ich versuche, zwei Finger in den Briefkasten mit der Nummer 4 zu stecken, doch wie zu erwarten ohne Erfolg. Eine irrationale Wut steigt in mir auf. Selbst sein Briefkasten verweigert mir den Zutritt. Ich drücke meine Wange gegen die Wand und versuche, aus einem schrägen Winkel in den Kasten zu schauen. Absolut lächerlich. Ich reiße ein Stück von einem Katze vermisst -Blatt an der Wand ab, kritzle meinen Namen darauf und stecke es in den Briefkasten. Zumindest weiß er so, dass ich hier war.
Auf dem Nachhauseweg springe ich kurz in den Quincy Market und besorge ein paar Sachen, die ich brauche: warme Socken, Schuhe mit Gummisohlen, Regenkleidung. Godiva-Schokolade und eine kurze Zigarre. Eine Pilotenbrille von Ray-Ban. Beim Verlassen des Geschäfts denke ich darüber nach, wie schnell ich sie wohl verlieren werde, und mache kehrt, um mir eine zweite Sonnenbrille zu kaufen. Dann schleppe ich meine Taschen ein paar Blocks nach Westen zu einem Fotoladen an der Tremont Street, wo ich mich für eine Minolta SR-T 102 entscheide, die wie ein kleiner Apfel in meine hohle Hand passt. Nach einem ausführlichen Gespräch mit dem Verkäufer nehme ich auch noch einen ultrakompakten, absolut wasserdichten HD -Camcorder Kodak PlaySport und eine Speicherkarte, die so winzig ist, dass man sie mühelos überall verstecken kann.
Zu meiner Erleichterung ruft er an diesem Abend an, allerdings nicht, weil er den Zettel gefunden hat. Er hat auf meinen Rat gehört und die
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