Die Frau die nie fror
nur ein Schiff. Ein riesengroßes Scheißschiff.«
Kapitel 4
D ie zweite Hälfte des Rituals – die Beerdigungsfeier – findet in Neds Lieblingskneipe statt, in Murphy’s Pub. Alle seine Freunde sind da, aber keiner seiner engen Verwandten. Es gibt ein Büfett mit kalten Platten, Lasagne, Salat, Kuchen. Und einen DJ , dem gesagt wurde, er solle Musik aus den 60er, 70er und 80er Jahren auflegen – die Songs, zu denen Ned sein Leben gelebt hat. Es ist wie ein Hochzeitsempfang, nur ohne das sich glücklich küssende Paar und die Mädchen in den grässlichen Kleidern. Aber alle reden, lachen, weinen und trinken genauso, als hinge ihr Leben davon ab, und man kann davon ausgehen, dass viele sich auf eine lange Nacht einstellen, so dass die gewalttätige Hölle, die sie in sich tragen, ausbrechen kann, wenn sie will.
Ich entdecke Noah und Thomasina an der Theke und bahne mir einen Weg durch den überfüllten Raum. Noah hockt vor einem Schinkensandwich, Fritten, eingelegten Gurken und einer Cola. Die bläulichen Schatten unter seinen Augen und die Tatsache, dass er seine Krawatte gelockert hat, lassen ihn wie einen müden Bankangestellten aussehen. Er wirkt erleichtert, aus Gottes Zuständigkeitsbereich entlassen worden zu sein, aber unsicher, wie er sich unter Erwachsenen benehmen soll, die sich wie ungezogene Kinder aufführen. Thomasina stibitzt dem Barkeeper eine Maraschino-Kirsche und bietet sie Noah an. Er lehnt ab – er nimmt es schrecklich genau, was Regeln angeht –, also stopft sie sich die Kirsche schnell in den Mund und legt den Stiel auf ihre Cocktailserviette. Das vor ihr stehende Glas enthält eine klare Flüssigkeit, in der kleine Bläschen aufsteigen, und eine Zitronenscheibe. »Mineralwasser«, informiert sie mich umgehend, aber ihr Blick schweift ab, denn sie weiß, dass es nicht dabei bleiben wird.
Noah verfolgt das Baseballspiel im Fernseher über der Bar. Einer der Typen, die sich das Spiel ansehen, schiebt Noah eine Schale Erdnüsse rüber und verwickelt ihn in ein Gespräch unter Männern, darüber, wer gewinnen wird. Noah rückt einen Hocker weiter zu ihm heran, damit er die Erdnüsse essen und den Fernseher besser sehen kann. Ich setze mich auf den freigewordenen Platz. Auf der anderen Seite neben Thomasina sitzt ein Mann mit dunklem Haar, weicher olivfarbener Haut und einem jugendlichen, femininen Gesicht. Er lehnt sich zu ihr hinüber und schenkt der dramatischen Brünetten in den hautengen Jeans besondere Aufmerksamkeit. Abgesehen von der Musik und dem Fernseher ist es sehr laut.
»Was für eine Zicke, oder?«, sagt Thomasina. »Ich habe noch nicht einmal die Hälfte von dem gesagt, was mir in den Sinn kam. Aber als sie Hand an mich gelegt hat … da hätte ich sie umbringen können.«
Der dunkelhaarige Typ fragt: »Wen umbringen?«
»Phyllis Rizzo.«
Das findet er amüsant, sagt aber nichts.
»Ehrlich, Pirio. Kannst du glauben, dass sie vor Noah all diese Sachen gesagt hat?«
»Vor allen«, verbessert sie der Mann hilfsbereit.
»Ach, was soll’s. Jede Beerdigung braucht ihre Szene«, sage ich und hoffe, die Unterhaltung umzulenken.
Ein großer Mann schlängelt sich durch, seine Augen fest auf mich gerichtet. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich John Oster wiedererkenne, und dann rutscht mir das Herz in die Kniekehlen. Rums! Wie ein Fahrstuhl, der in zwei Sekunden zwanzig Stockwerke nach unten rauscht. Gegen diese Reaktion ist man machtlos, wenn man plötzlich jemandem begegnet, mit dem man intensiv Sex hatte, egal wie lange das her ist.
Er hat sich in zehn Jahren schwer verändert. Der lodernde Haarschopf von einst ist dünner geworden und ordentlich gestutzt, so dass die helle Kopfhaut durchscheint. Sein Haaransatz ist auch auf dem Rückzug. John Osters rote Haare glichen einmal einem gewagten Festival, also kann ich gar nicht anders, als diese Veränderungen zu bedauern. Trauriger noch, all die einstmals scharfen Kanten seines Körpers sind abgerundet, als hätten die Torwächter des mittleren Alters entschieden, sie zu ihrem eigenen Schutz mit einer Lage fleischiger Noppenfolie abzupolstern.
Aber es ist immer noch John Oster. Das metallische Blitzen in seinen Augen und die ungestüme Allein-gegen-die-Welt-Haltung, die das Schicksal zu verspotten schien – so ist nur er. Niemand hat ihn jemals John genannt: Er hieß immer Crazy John, Johnny O. oder Oyster Man. Er hat mehr Geschichten erzählt als Jesus, die meisten davon über gefährliche
Weitere Kostenlose Bücher